Das Humboldt‘sches Bildungsideal und die sogenannte Wissensgesellschaft


Heute möchte ich einmal auf das sogenannte „Humboldt’sche Bildungsideal“ hinweisen, welches nach Ende der Befreiungskriege in Preußen die „höhere Bildung“ maßgeblich geprägt hat und bis heute - nicht nur in Deutschland, sondern in besonders reiner Form in den amerikanischen Eliteuniversitäten - in der Einheit von Forschung und Lehre weiterlebt (obwohl sie im „Bologna-Prozess arg konterkariert wird). An der Stelle ist es vielleicht interessant noch einmal an dasjenige zu erinnern, was Wilhelm von Humboldt (1767-1835) unter „Bildung“ versteht: 

Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnisse, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesinnungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hierzu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschieht, von einem zum andern überzugehen“. 

Und was das wichtigste ist, nach Wilhelm von Humboldt soll jedem Menschen die Chance gegeben werden, einen Grundstock an Bildung zu erwerben, welches er dann nach Talent und Fähigkeiten stufenweise (und wenn er es sich nicht leisten kann, gefördert durch Stipendien) erweitern kann bis hin zur „höheren“ universitären Bildung. So schreibt er: 

Das höchste Ideal des Zusammenexistierens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst und um seiner selbst willen sich entwickelte.“ 

Bildung bedeutet in diesem Sinn nicht nur Teilhabe am Wissen der Welt und dessen Reflektion für sich als Individuum. Es bedeutet auch Orientierung, die Entwicklung eines historischen Bewusstseins, die Fähigkeit und der innere Wunsch, sich selbst zu bilden (der „Gebildete“ ist ein Leser), sie ist darüber hinaus ein Quell der Selbsterkenntnis und ermöglicht Selbstbestimmtheit und sollte auch mit moralischer und ethischer Integrität einhergehen. 

Denjenigen Teil der „humboldtschen Bildung“, welche die „Geisteswissenschaften“ betrifft, hat der Literaturwissenschaftler Dietrich Schwanitz (1940-2004) in seinem viel beachteten und teilweise auch zu recht kritisierten Buch „Bildung. Alles was man wissen muss“ sehr schön und unterhaltsam zusammengestellt (gibt es auch als Hörbuch!). Es kann deshalb durchaus als Wegweiser zu einer umfassenden Bildung empfohlen werden. Was aber fehlt, ist eine Zusammenstellung der mindestens genauso wichtigen mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildungsinhalte. Diese wurden dann etwas später u. a. von dem Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer mit dem Buch „Die andere Bildung“ nachgereicht. Heute, wo das Wort und die Forderung nach „mehr Bildung“ so etwas wie ein geflügeltes Wort von Politikern aller Couleur geworden ist, beobachtet man bei aufmerksamer Betrachtung eher eine schleichende Abkehr vom humboldtschen Bildungsideal, welches Deutschland für fast zwei Jahrhunderte (mit Unterbrechungen) eine führende Position in Kultur und Wissenschaft eingebracht hat. Das beginnt damit, dass dem zeitlichen Vorrang der allgemeinen Bildung gegenüber einer beruflichen Bildung immer weniger Gewicht beigemessen wird. Natürlich muss weiterhin diskutiert werden - auch in Hinblick auf die technischen Möglichkeiten, die einem gegenwärtig zur Verfügung stehen - welche Inhalte zur allgemeinen Bildung zu zählen sind. Dass das heute wie zu Humboldts' Zeiten nicht mehr allein Philosophie, Philologie und Geschichte sein können, versteht sich quasi von selbst. Aber das sollte kein Grund sein, diese Fächer zu vernachlässigen. Die immer mehr zu beobachtende Ökonomisierung der Bildungsinhalte nach dem Motto, nur das Wissen ist nützlich, welches dem Arbeitsmarkt nutzt, kann bei genauer Betrachtung zu einer fatalen Fehlentwicklung führen. Sie äußert sich in einem Verkommen von Universitäten in reine Lehranstalten, in einer staatlichen Einflussnahme in Bildungsinhalte (man denke an das Abwürgen von Studiengängen in Bezug auf die KKW-Technik), in einer mehr und mehr staatlichen Untergrabung der universitären Selbstverwaltung durch drehen am Geldhahn sowie an der Berechnung von „Bildungsrenditen“, die letztendlich ein Ausdruck dafür sind, dass es anscheinend nur noch um den ökonomischen Nutzen von Bildungsabschlüssen geht. Aber das ist alles leicht gesagt. Ein Problem ist der politische Anspruch, möglichst jeden zur Hochschulreife zu führen, was gegenwärtig den hohen Schulen kaum zu bewältigende Studentenzahlen beschert und die individuelle Förderung von Talenten eher erschwert. Aber dieses Problem wird sich in den nächsten Jahrzehnten aufgrund der Demografie von selbst erledigen. Es wäre also eine gute Zeit, sich wieder an Wilhelm Humboldt zu erinnern und die letztendlich fatale und politisch gewollte Tendenz zu einer Niveauabflachung von Bildungsinhalten sowie die Schonhaltung im Bildungsbetrieb aufzugeben, aber auch - und das empfinde ich als besonders wichtig - die nichtakademischen Bildungsabschlüsse in ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz zu stärken. 

Es wird immer wieder kolportiert, dass wir alle heute in einer „Wissensgesellschaft“ leben, aber vergessen, das Wissen und Bildung genaugenommen zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Die Inhalte beider Begriffe widersprechen sich selbstverständlich nicht, aber grundsätzlich ist Wissen auch ohne Bildung möglich (der Rückkehrschluss gilt dagegen nicht - Bildung setzt „Wissen“ voraus). Dank der technologischen Hilfsmittel, z. B. festgemacht am Internet und dem mittlerweile überall omnipräsenten Smartphone, kann man heutzutage auf "Wissen" jederzeit zugreifen, ohne es selbst intellektuell erarbeitet, hinterfragt und durchdacht zu haben. Zurzeit ist bekanntlich die Google-Brille aktuell, über die sich bei Bedarf Wissensinhalte aus dem unermesslichen Fundus des Internets „aufblenden“ lassen - und es gibt bereits erste Überlegungen, die Funktionsweise dieser Brille auf eine Kontaktlinse auszulagern. Ohne entsprechende Augenkontrolle wäre das dann beispielsweise der Tod von Quizsendungen wie „Wer wird Millionär“ und auch die Prüfungskultur des Bildungswesens wäre mit solch einer „Kontaktlinse“ gefährdet. Mit derartigen technischen Hilfsmitteln kann dann auch ein „Ungebildeter“ zum „Wissenden“ werden. Er ist dann eher vergleichbar mit Kim Peek, der zwar aufgrund seiner Inselbegabung eine ganze Bibliothek auswendig daher sagen, deren Inhalte und Zusammenhänge jedoch nicht oder kaum verstehen konnte. Aber wie alles im Leben gibt es auch noch eine andere Sichtweise, denn genau solch ein externer Wissensspeicher kann einem Gebildeten, der gelernt hat, seinen Verstand zu gebrauchen, ein überaus nützliches Werkzeug sein. Er unterscheidet sich jedoch von den „ungebildeten Gelehrten“ (wie ihn der Philosoph Peter Bieri einmal genannt hat) dadurch, dass er die Informationen kritisch werten, sie in größere Zusammenhänge einordnen und daraus Motivationen für weitere „Forschungen“ ableiten kann mit dem Ziel, dieses Wissen letztendlich in Besitz zu nehmen. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen