Über Epigenetik und eine große Bienen- und eine kleine, aber berühmte französische Königin mit Namen "Mathilde von Flandern" (und was das "Singende klingende Bäumchen" damit zu tun hat...)


Interessanterweise gibt es rund 40 Jahre nach Trofim Denissowitsch Lyssenkos Tod doch Hinweise darauf, dass bestimmte erworbene Eigenschaften (z. B. Krankheitsbilder) unter gewissen Umständen an die Nachkommen weitergegeben werden, obwohl das nach den Gesetzen der Genetik nicht möglich sein sollte. Die Funktionsweise dieser sogenannten epigenetischen Prozesse ist dabei durchaus an die Gene und deren Vererbungsmechanismen gebunden, aber nicht an die eigentliche genetische Information, die im DNA-Molekül hinterlegt ist. Ausschlaggebend sind hier spezielle epigenetische Faktoren, welche in der Lage sind, die Aktivität von Genen zu regulieren, indem sie diese oder Gruppen von ihnen in Bezug auf die Genexpression in der Zelle ein- oder ausschließen. Sie sind selbst nicht in der DNA lokalisiert, sondern in bestimmten Proteinen in den Chromosomen, genauer den Histonen. Diese Histone stellen quasi die „Spulen“ dar, um die sich ein DNA-Molekül bei Eukaryonten im kondensierten Zustand windet. Werden diese „Spulen“ chemisch verändert, hat das entsprechende Auswirkungen auf die Genexpression. Gerät ein Lebewesen z. B. unter Stress, d. h. durch veränderte Umweltbedingungen, Nahrungsmangel oder der Einwirkung von Giftstoffen, dann können bestimmte Histone dauerhaft chemisch markiert werden und auf diese Weise Einfluss auf das Verhalten von Körperzellen nehmen, in dem sie gewisse Gene permanent ein- oder ausschalten. Es scheint so - und entsprechende Experimente belegen es mittlerweile - dass derartige epigenetische Marker durchaus an die Nachkommen weitergegeben werden können. Es gibt sogar begründete Vermutungen darüber, dass bestimmte Krankheiten wie Diabetes oder Fettleibigkeit zu einem gewissen Teil epigenetisch bedingt sind. Deshalb ist die Erforschung der entsprechenden Mechanismen auch von großer gesundheitspolitischer Bedeutung. Für die Erb- und Evolutionsbiologie ist die Epigenetik ein neuer Ansatzpunkt zur Erklärung erbbiologischer Auffälligkeiten. 

Nehmen wir z. B. die Honigbiene, um mal ein Beispiel aus der Tierwelt zu bemühen. Bekanntlich sieht dieses Insekt im frühen Larvenstadium immer gleich aus. Diejenigen Larven, die von den Ammenbienen mit einem Gemisch aus Honig und Pollen gefüttert werden, entwickeln sich zu sterilen Arbeitsbienen. Die Larve hingegen, die mit Gelée royale (Weiselfuttersaft) gefüttert wird, ändert ihre Gestalt und entwickelt sich zu einer eierlegenden Bienenkönigin. Dabei sind die Gene der Arbeitsbienen und der Bienenkönigin völlig identisch. Es scheint so, dass die Nahrung - hier die Honig-Pollen-Mischung - zur expliziten Abschaltung bestimmter Entwicklungsgene führt. Der chemische Mechanismus, der insbesondere auf die Histone wirkt, nennt man Methylierung. Darunter versteht man das „Anhängen“ bzw. „Entfernen“ von Methylgruppen an bestimmten Histon-Proteine mit dem Effekt, dass sich damit die Genexpression steuern lässt. Und das Bemerkenswerte dabei ist, dass sich mit speziellen Pharmaka gezielt Einfluss auf diesen Vorgang nehmen lässt, was neue therapeutische Ansätze bei gewissen Krankheiten verspricht. Erste Erfolge gibt es beispielsweise bei der Erkennung von Krebszellen, bei denen die Gene abgeschaltet sind, welche das krankhafte Zellwachstum normalerweise verhindern. Weiterhin sind, wie man erst seit wenigen Jahren weiß, epigenetische Fehlsteuerungen für die Entstehung bestimmter immunologischer und neuronaler Erkrankungen sowie diverser Wachstumsstörungen von Bedeutung. Darunter fallen beispielsweise auch seltene Erkrankungen wie das Silver-Russel-Syndrom (eine spezielle Form der Kleinwüchsigkeit), die man unter dem Begriff Genomic Imprinting (genomische Prägung) zusammenfasst. 

Kleinwüchsige Menschen (d. h. Menschen, die im Erwachsenenalter unter 1,5 Meter Körperlänge bleiben und keine Pygmäen sind) hat es schon immer gegeben. In der Bundesrepublik sind nach Angaben des „Bundesverbandes Kleinwüchsige Menschen und ihre Familien“ ca. 100.000 Personen davon betroffen. Heute stehen ihnen fast alle Berufe offen (eine Ausnahme sind beispielsweise Profi-Basketballspieler). In der Vergangenheit wurden Kleinwüchsige zumeist toleriert und, wie im alten Ägypten, sogar verehrt. Besonders im Mittelalter und in der frühen Neuzeit galt es bei Hofe als schicklich, den einen oder anderen „Zwerg“ als Spaßmacher anzustellen. Auch waren kleine Menschen als „Spezialisten“ gern gesehen - so z. B. im Bergbau (man denke nur an die „Sieben Zwerge“) oder als Kaminreiniger („Schornsteinfeger“). Der Ire Jonathan Swift (1667-1745) machte „Kleinwüchsige” 1726 sogar zum Thema eines vielbeachteten Romans mit dem etwas sperrigen Titel: „Travels into Several Remote Nations of the World in Four Parts By Lemuel Gulliver, first a Surgeon, and then a Captain of Several Ships” - heute kurz als „Gullivers Reisen“ bekannt. Seitdem werden Kleinwüchsige auch gern als „Liliputaner“ bezeichnet, was manchmal als abwertend empfunden wird, es aber sicherlich nicht ist. 

Interessant ist, dass ab dem 19. Jahrhundert viele Kleinwüchsige Karrieren auf dem Gebiet der Schauspielerei gemacht haben. Nehmen wir z. B. Kenny Baker, den viele von uns aus der Star-Wars-Saga kennen. Oder Tamara De Treaux (1959-1990), die in Steven Spielbergs berühmten Film „E.T.“ („Nach hause telefonieren...“) den „Außerirdischen“ (leider nur als Kern der „Puppe“) mimte, weshalb sie trotz ihrer herausragenden schauspielerischen Leistung leider ziemlich unbekannt blieb. Fast jeder in der DDR geborene kennt dagegen - wenn auch kaum vom Namen her - Richard Krüger (1953-1995). Er spielte u. a. den bösen Zwerg in dem hübschen Märchenfilm „Das singende klingende Bäumchen“ aus dem Jahre 1957. Heute vermutet man, dass Richard Krüger nur der Künstlername des Artisten Hermann Emmrich war, der in Prenzlau lebte. Interessanterweise gibt es darüber immer noch eine Kontroverse unter den Cineasten, die sich m. W. bis heute nicht abschließend klären ließ. Aber es stimmt durchaus. Kleinwüchsige arbeiten gern im Zirkus - wenigstens als Clown, aber oft als begnadete Zirkusartisten. Die Ungarin Susanna Bokoyni (sie wurde im Jahre 1879 geboren, war gerade einmal einen Meter groß und wurde 105 Jahre alt) trat z. B. europaweit und zuletzt auch in den Vereinigten Staaten als „Prinzessin Susanna“ auf und begeisterte ihr Publikum. Berühmt wurde auch der schwarze Entertainer Thomas Dilward (1840-1902), der als „Japanese Tommy“ in Varietéshows auftrat. Und auch die berühmten Worte über Isaak Newton: Nature and nature's laws lay hid in night - God said "Let Newton be!" and all was light. („Natur und der Natur Gesetze lagen in dunkler Nacht - Gott sprach: Newton sei! Und sie strahlten voller Pracht“ – in Deutsch gereimt.) stammen von einem heute noch bekannten kleinwüchsigen Dichter (1,37 Meter) - nämlich Alexander Pope (1688-1744). 

Unter den gekrönten Häuptern der Weltgeschichte findet man dagegen so gut wie keine Kleinwüchsige. Der Grund dafür dürfte dabei eher in ihrer Seltenheit liegen, denn in Dynastien, die sich durch Erbfolge erhalten, dürfte die Körpergröße kein maßgeblicher Parameter gewesen sein. So mag es zwar überraschen, dass die Gemahlin König Wilhelm I. (um 1027-1087) und spätere Königin von England, Mathilde von Flandern (um 1030-1083), nur 1,27 Meter groß war, während ihr Ehemann eine außergewöhnlich stattliche Gestalt gehabt haben soll. Man kennt ihre Körpergröße nur deshalb so genau, weil man 1961 ihr Grab in der Abtei des Klosters Sainte Trinité in Caen geöffnet und ihre Gebeine vermessen hat. Zu Lebzeiten wurde ihre Kleinwüchsigkeit, jedenfalls was die schriftlichen Überlieferungen betrifft, nie thematisiert. Warum sollte auch eine große Königin nicht mal klein sein dürfen. Leider wissen die Historiker nur erstaunlich wenig über die Französin, die am 11. Mai des Jahres 1068 als Mathilde I. (wahrscheinlich in Winchester, der ersten Hauptstadt Englands) zur Königin von England gekrönt wurde.



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