Mit Hilfe des Wissenschaftsgebietes der Exegese, die wie die Hermeneutik der Philosophie zugeordnet wird, versucht man beispielsweise herauszubekommen, was uns ein Text in seinem Kontext eigentlich „sagen will“. Die Hermeneutik dagegen beschäftigt sich im philosophischen Sinn mit dem Akt des „Verstehens“ eines Textes und im methodischen Sinn mit dem Erklären und Auslegen von Texten. Beide „Methoden“ wurden ursprünglich dazu entwickelt, die in heiligen Texten enthaltenen Aussagen verständlich, z. B. im allegorischen Sinn, zu machen.
Nehmen wir z. B. die Bibel und darin das letzte Buch des Neuen Testaments, die Apokalypse (besser bekannt als die „Offenbarung des Johannes“). Macht man sich die Mühe und liest als nicht sonderlich kirchlich Angehauchter den Text, dann fragt man sich unweigerlich, was will uns der Autor (augenscheinlich ein christlicher Prophet) damit eigentlich sagen? Offensichtlich ist der Text hochgradig erklärungsbedürftig. Seine mystische Sprache, sein Kontext, der nur im Kontext der Zeit, wo er geschrieben wurde, überhaupt verständlich zu sein scheint, widerstrebt einer sofort einleuchtenden Interpretation. Und hier beginnt die Arbeit der Exegeten, der Bibelausleger. Je nach ihrer Herangehensweise deuten sie die Apokalypse als „Gegenwartskritik“ im Sinne der „Gegenwart“ zur Zeit des römischen Kaisers Domitian (51-96), der ein grausamer Christenverfolger war. Andere wiederum sehen darin eine Zukunftsvision, die in der Endzeit, im „Jüngsten Gericht“, enden wird. Die vom Propheten „gesehenen“ Katastrophen kündigen sie an und steigern sich bis zum Endgericht, dem dann das Reich Gottes folgt. Diese Interpretation ist sehr beliebt bei den Zeugen Jehovas und wird auch gern einmal künstlerisch verarbeitet, wie z. B. in dem US-amerikanischen Endzeitfilm „Das Siebte Zeichen“ von 1988 (wobei man sich über den künstlerischen Wert des Streifens durchaus streiten kann). Eine weitere Interpretation liest die „Offenbarung“ mehr als Heilsdrama, als den Kampf gegen die Unheilsmacht des absolut Bösen, welches im Sieg Gottes und der Errichtung seines ewigen Reiches gipfelt. Historisch gesehen lässt sich diese Interpretation als Gesellschaftskritik an den Zuständen des römischen Kaiserreichs auffassen, vor dessen zerstörerischem Einfluss Johannes die kleinasiatischen Gemeinden, die noch stark hellenistisch geprägt waren, warnen bzw. bewahren wollte.
Aus der „Offenbarung des Johannes“ haben es auch aufgrund der Bibelübersetzung Luthers ein paar Redewendungen bis in die Alltagssprache geschafft. So das „Buch mit sieben Siegeln“, und „Das Alpha und das Omega“ (bzw. „das A und O“) aus dem Zitat
„Ich bin das Alpha und Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende“.
Dieses „Omega“ hat sogar - als Endpunkt der Geschichte - Einzug in die wissenschaftliche Terminologie gehalten, als „Omegapunkt“.
Als erstes als Zielpunkt aller evolutionären Entwicklungen an sich (z. B. im Sinne des Theologen und Philosophen Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955)) und zum anderen als möglicher Endpunkt einer kosmologischen Entwicklung des gesamten Universums.
Die „Omegapunkttheorie“ gibt sich als physikalische Theorie aus, die auf der Allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins beruht und einen sogenannten „Big Crunch“ am Ende der Entwicklung unseres Universums vorhersagt. Dessen Eintreten hängt entscheidend von der mittleren Dichte der gravitativ wirksamen Energie (=Masse) des Kosmos ab. Übersteigt sie einen kritischen Wert, dann kommt die kosmische Expansion irgendwann zum Stehen und der „Kosmos“ geht in eine Kollapsphase über, die wiederum nach einer endlichen Zeit in einem „Big Crunch“ endet. Und genau hier wird von dem amerikanischen Physiker Frank J. Tipler der „Omegapunkt“ angesiedelt. Nur leider zeigen alle Beobachtungen, dass es (wahrscheinlich) nie zu einem „Big Crunch“ kommen wird, denn das Expansionsverhalten unseres Kosmos zielt auf eine „ewige“ Expansion hin - die Expansionsrate nimmt nämlich nicht ab, sie ist auch nicht konstant, sondern nimmt stetig zu. Für diese Entdeckung haben die Astronomen Saul Perlmutter, Brain P. Schmidt und Adam Riess 2011 den Nobelpreis für Physik erhalten.
Was enthält nun die „Omegapunkt-Theorie“, welche Frank J. Tipler 1994 in seinem vielbeachteten und durch seinen Titel „Die Physik der Unsterblichkeit – Moderne Kosmologie, Gott und die Auferstehung der Toten“ auch schnell zu einem Bestseller gewordenen semipopulären Buch entwickelt hat? Tipler konstruiert darin ein Szenario, mit dem er letztendlich, quasi mit dem Anspruch einer naturwissenschaftlichen Grundlage, die „Wiederauferstehung“ eines jeden von uns – und zwar als „Simulation“ in einem kosmischen Computer – vorhersagt mit der Aussicht auf ein „ewiges Leben“, so wie es die christliche Religion ja auch verheißt. Viele Teile des Buches, soweit sie nicht mit theologischem Vokabular durchmischt sind und sich auf rein wissenschaftliche Teilaspekte wie z. B. Poincarès Theorem der Wiederkehr oder den „Wärmetod“ des Weltalls beziehen, sind durchaus auch für einen Physiker aufschlussreich und regen zum Nachdenken über den Gegenstand an (Hinweis: es ist keine leichte Kost!). Das Gesamtgebäude jedoch, welches der Autor darauf aufbaut, erscheint dann doch ziemlich krude und kann vom wissenschaftlichen Standpunkt aus nicht einmal ansatzweise ernst genommen werden. Die Ausgangsintention scheint eher so gewesen zu sein, dass eine Art „Glaubensinhalt“ vorgegeben wurde (das „Reich Gottes“ nach dem „Jüngsten Gericht“ gemäß der Apokalypse) und der Autor sich scheinbar ernsthaft gefragt hat (obwohl man das bei so einer fachlichen Koryphäe wie Frank J. Tipler eigentlich kaum glauben mag), wie die Natur (Kosmos) beschaffen sein muss und was der Mensch tun muss, damit dieser „Glaubensinhalt“ „am Ende der Zeit“ erfahrbar „wahr“ wird. Die Vermengung zwischen naturwissenschaftlicher Argumentation und eschatologischer Vorgaben, wie sie sich beispielsweise in monotheistischen Religionen wiederfinden, machen jedenfalls die Lektüre nicht einfacher.
2008 hat er übrigens nachgelegt: „Die Physik des Christentums: Ein naturwissenschaftliches Experiment“. Darin will er zeigen, dass alle „Wunder“ des Christentums naturwissenschaftlich erklärbar sind – von der „Jungfrauengeburt“ über den Spaziergang Jesus über das Wasser des Sees Genezareth bis hin zur Entmaterialisierung des Körpers von Jesus. Die „Lösungen“, die er dabei anbietet, sind aber derart grotesk (er erklärt z. B. das Wandeln Jesus über das Wasser mit einem Neutrinostrahl, der sich unter den Füßen Jesus bildet und nach „unten“ gerichtet ist – einfacher ging es wohl nicht? Wie wär’s mit einem Flyboard?), dass man irgendwann aufhört zu lesen. Von einigen Christen, besonders aus der Kreationistenszene, euphorisch begrüßt, wurde es von seinen Fachgenossen (z. B. Lawrence Krauss, der ansonsten auch gern „spekuliert“) als barer Unsinn bezeichnet, welches der hohen fachlichen Reputation des Verfassers überhaupt nicht gerecht wird (er ist immerhin Professor für mathematische Physik an der Tulane University in New Orleans, der anerkannte und wichtige Beiträge beispielsweise zur Kosmologie geliefert hat).
Mit diesem Buch jedenfalls outet sich Tipler als Anhänger des Christlichen Fundamentalismus, die sich auf die Bibel als wörtlich inspiriertes Wort Gottes (des christlichen wohlgemerkt) berufen. Dieser Fundamentalismus, der insbesondere im sogenannten „Bibel-Gürtel“ der USA weit verbreitet, ja sogar dominant ist (in Form der Evangelikalen), versucht das moderne wissenschaftliche Weltbild wieder zu verdrängen, in dem es auf der Grundlage von Bibelworten eine Gegenposition aufbaut, die gläubige und schlichte Gemüter überzeugen soll.
Aus dem Problem heraus, dass ihnen nach einem Rechtsstreit ihre Einflussnahme auf das säkularisierte Bildungssystem der USA erschwert ist, entwickelten sie unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit eine Gegenposition, die als „Intelligent Design“ bezeichnet wird, um über eine Hintertür doch noch ihre Anschauungen in das staatliche Bildungssystem einschmuggeln zu können. Dabei ist die Methode äußerst raffiniert. In dem man z. B. verlangt, dass sowohl die Darwin’sche Evolutionstheorie als auch die „Theorie des Intelligent Design“ – wobei offen gelassen wird, wer der „Designer“ eigentlich ist (das kann sich ja schließlich jeder selber denken) – gleichberechtigt gelehrt werden, versuchen die Evangelikalen doch noch einen Fuß in die Schulen und Hochschulen zu bekommen.
„Intelligentes Design“ ist erst einmal eine teleologische Position, die behauptet, das bestimmte Dinge in der Natur (die Evolutionstheorie ist dabei nur ein besonders gern genutztes Feld) besser erklärbar wären, wenn man den steuernden Einfluss eines außerhalb der Natur stehenden, allmächtigen Wesens postuliert. Dazu suchen sich die Anhänger des „Intelligenten Designs“ Phänomene oder Problemstellungen, die von der Wissenschaft noch nicht verstanden oder noch nicht geklärt sind und bieten eine scheinbare Lösung in dem Wirken eines „intelligenten Designers“ an. Und wenn dann die Wissenschaft doch eine einleuchtende und stringente Erklärung gefunden hat, dann wenden sie sich schnell einem neuen, noch nicht gelösten Problem zu. Dabei nutzen sie durchaus wissenschaftliche Methoden, publizieren in der entsprechenden Fachsprache und lassen meist nur im Hintergrund anklingen, dass zur Lösung des Problems nur ein übernatürlicher Einfluss übrig bleibt. Dabei wird das Wort „Gott“ oder anderweitiges religiöses Vokabular möglichst vermieden, damit nicht der Eindruck eines „Lückenbüßergottes“ aufkommt, der immer nur dann bemüht wird, wenn es darum geht, Lücken in einer wissenschaftlichen Argumentationskette zu schließen.
Das sich die Ideologie des „Intelligent Designs“ gerade die Evolutionstheorie als wichtigstes Betätigungsfeld ausgesucht hat, scheint mehrere Gründe zu haben. In der extremen, quasi wortwörtlichen Auslegung der Bibel, wo es eine Schöpfung in 6 Tagen, einen Noah mit seiner Arche und eine die ganze Welt heimsuchende Sintflut gibt, ist es natürlich durchaus eine Herausforderung, diese Ansichten mit dem, was die Wissenschaft herausgefunden hat, in Einklang zu bringen. Wenn man die Schöpfungsgeschichte, wie sie in der Genesis niedergelegt ist, Wort für Wort für eine nicht zu hinterfragende Wahrheit hält, dann ist natürlich die Darwin’sche Evolutionstheorie mit stetigen Wandel über große Zeiträume hinweg ein natürlicher Feind dieser Auffassungen. In dieser Hinsicht ist die (katholische sowie evangelische mit Ausschluss der „Evangelikalen“) „Amtskirche“ pragmatischer und lässt Glaube Glaube und Wissenschaft Wissenschaft sein, ja, sie erkennt die Evolutionstheorie mittlerweile problemlos an, da sie eine Domäne der Naturwissenschaften ist und die von Glaubensinhalten, die sie in einer anderen Ebene ansiedeln, nicht berührt wird (Johannes Paul II., 1996). Evangelikale Strömungen können und wollen das nicht akzeptieren, weil das auch ihrem ausgeprägten Sendungsbewusstsein und ihrem Alleinvertretungsanspruch für die „göttliche Wahrheit“ widersprechen würde. Mittels der „Theorie“ des „Intelligenten Designs“ versuchen sie quasi eine Gegenposition zur Evolutionstheorie aufzubauen, die den Eindruck erwecken soll, dass sie auch eine „wissenschaftliche“ Position widerspiegelt, die der kanonischen Evolutionstheorie in ihrer Wertigkeit zumindest gleichzusetzen ist. Und gerade das ist sie nicht, denn sie bemüht zur Erklärung gewisser Phänomene etwas, was außerhalb der Naturwissenschaften steht und damit einer Falsifizierung gemäß Karl Popper prinzipiell nicht zugänglich ist. Ziel scheint es zu sein, die wissenschaftliche Evolutionstheorie im Gebäude der Biologie insgesamt zu diskreditieren, in dem man den Eindruck vermittelt, dass sie in deren Rahmen selbst umstritten sei (was sie natürlich nicht ist, denn „Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn außer im Licht der Evolution.“ - Theodosius Dobzhansky (1900-1975)).
"Interessant" deswegen, weil man aus dem Artikel u.a. wieder einmal erfährt, mit welcher Hartnäckigkeit selbst sich als "wissenschaftlich" gebende Personen gegen unsere Endlichkeit und die (höchst unwahrscheinliche) Zufälligkeit der Existenz jedes einzelnen von uns stemmen.
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