Auf dem Weg nach Utopia?


Jenseits aller Ideologien und Religionen besteht der eigentliche Sinn unserer Existenz in dem Streben nach Glück, wie es einmal der Dalai Lama (Tendzin Gyatsho) ausgedrückt hat. Aber echtes individuelles Glück kann nun mal nicht auf dem Unglück anderer Gedeihen. 

Es wird also Zeit, sich wieder einmal mit „konkreten Utopien“ auseinanderzusetzen, um mit Ernst Bloch (1885-1977) zu sprechen. Das Problem ist, dass die Zukunft offen ist und Vorhersagen über gewisse Entwicklungen nur – und auch da nicht sicher – über einen überschaubaren Zeithorizont möglich sind. Daran scheitert übrigens regelmäßig die „Futurologie“, die Lehre von den möglichen zukünftigen Entwicklungen, sobald sie den überschaubaren Zeithorizont überschreitet. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sagte man z. B. ein „Pferdemistproblem“ für die Zukunft vorher. Allein in New York lebten um 1900 etwa 100.000 Pferde, die als Zugtiere unentbehrlich waren. Sie produzierten täglich etwa 1400 Tonnen Pferdemist, der natürlich kontinuierlich von den Straßen entfernt werden musste. Diese Menge sollte sich, wie plausible Hochrechnungen der Städteplaner zeigten, im Zuge des stetigen Wirtschaftswachstums immer weiter erhöhen, so dass schließlich eine vollständige und zeitnahe Entfernung sowie ein Abtransport irgendwann nicht mehr möglich ist. Eine Überschlagsrechnung ergab das pessimistische Ergebnis, dass man um 1950 mit einer ca. 3 Meter hohen Schicht von Pferdemist auf allen New Yorker Straßen zu rechnen habe. Gottseidank konnte dieses Horrorszenario durch die Erfindung des Automobils (dessen Erfolg seinerzeit die Zukunftsforscher so nicht vorhergesagt haben) noch einmal abgewendet werden. 

Es ist auch heute noch schwierig, der Zukunftsforschung so etwas wie eine „Wissenschaftlichkeit“ zu bescheinigen, wenn sie vorgibt, Aussagen über zukünftige Entwicklungen zu machen, die einen Zeithorizont von vielleicht zehn Jahren übersteigen. Man denke hier nur an den Siegeszug des Computers, der zu jener Zeit, als von Steve Jobs (1955-2011) der erste „Apple“ vorgestellt wurde, so noch nicht abzusehen war. Unerwartete politische und technologische Entwicklungen können bekanntlich schnell eine Zukunftsprognose zunichte machen. Trotzdem sind Zukunftsmodelle nicht per se sinnlos. Sie sind in Hinsicht auf gewisse Fragen sogar äußerst wichtig, soweit sie Basisparameter wie z. B. das Bevölkerungswachstum sowie gewisse, für die wirtschaftliche Entwicklung wichtige Kennziffern betreffen. Auch die zukünftige Entwicklung des Erdklimas gehört ohne Zweifel dazu, und zwar unabhängig davon, ob sie einen wesentliche anthropogenen Anteil enthält (und damit zumindest theoretisch in gewissen Grenzen steuerbar ist) oder nicht. 

Wenn man jedoch eine konkrete Vorstellung von einer wünschenswerten Zukunft hat, dann spricht man von einer Utopie. „Utopia“ ist erst einmal ein Ort, den man als „Nirgendwo“ übersetzen kann. Er wird immer dann bemüht, wenn man zu den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen einen positiven Kontrast einer „Idealwelt“ aufbauen möchte, wie es die frühen Utopisten versucht haben. Die Marxisten haben schließlich daraus eine nach ihren eigenen Anschauungen „wissenschaftliche“ Lehre gemacht, indem sie die geschichtliche Entwicklung der Menschheit (genauer des Abendlandes) hin zu einer klassenlosen Gesellschaft, quasi einem kommunistischen Elysium, extrapolierten. Damit erhielt sie einen eschatologischen Touch, wie man sie sonst nur von monotheistischen Religionen her kennt. Hier wird „Utopie“ als reale Möglichkeit gedacht, ja sogar zum Ziel sozialökonomischer Entwicklungen stilisiert. 

Denkt man eine Utopie als etwas Wünschenswertes, Erstrebenswertes, dass sich jenseits von reinen Luftschlössern erreichen lässt, dann gelangt man zu dem von Ernst Bloch geprägten Begriff einer „konkreten Utopie“. Sie ist eng mit dem „Prinzip Hoffnung“ verbunden, welches zugleich auch der Titel des philosophischen Hauptwerks Ernst Blochs ist, in dem er in Bezug auf das real Mögliche Wege gesellschaftlicher Entwicklungen aufzeigt, die nichts mit dem Bau von „Wolkenkuckucksheimen“ zu tun haben, sondern Handlungsanweisungen aufzeigen, um Wünschenswertes real werden zu lassen. Bei Ernst Bloch ist der Weg das Wesentliche und dessen Endpunkt bleibt nebulös und zweitrangig, aber trotzdem soweit sichtbar, dass er als wünschenswertes Ziel erhalten bleibt.

Bei den „romantischen Utopisten“ wird dagegen das wünschenswerte „Endziel“ als ein „Utopia“ vorgegeben und der Weg dahin bleibt nebulös. 

Thomas Morus (1478-1535) war ein englisch-liberaler Politiker. In seinem 1516 verfassten Werk „Utopia“ schildert er eine in seinen Augen liberale Idealgesellschaft, die durchaus modern anmutet. Tommaso Campanella (1568-1639) entwarf in seinem „Sonnenstaat“ (1602) einen utopischen Staat, der seine Wunschvorstellung einer päpstlichen Universalmonarchie unter Aufhebung des Privateigentums (das er als Ursache aller sozialen Übel ausmachte) entsprach. Henri de Saint-Simon (1760-1825) wiederum, zweihundert Jahre später, prägte als Zauberwort „l’Industrie“ – nur die nützliche Güter produzierenden und nützliche Dienstleistungen anbietenden Mitglieder des Gemeinwesens (im Gegensatz zu den „parasitären Elementen“, worunter er in erster Linie den Adel verstand) sind für ihn wertvoll für die Gesellschaft. 

Heute müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie die Menschheit selbstverschuldete lokale und globale Katastrophen verhindern kann, in dem man als Wunschvorstellung eine im Gleichgewicht mit der Natur existierende Gesellschaft, die den Planeten nicht überfordert, sich nicht selbst ausrottet und trotzdem dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt verhaftet bleibt, vorgibt und die Wege dahin aufzeigt: Begrenzung des Bevölkerungswachstums, ressourcensparende Kreislaufwirtschaft, Beendigung der Zerstörung der Biodiversität des Planeten, Primat der Politik bei Konfliktsituationen, Abbau des Potentials der versehentlichen Selbstzerstörung, Überwindung der Armut und der Unwissenheit auf der Welt durch Modelle der gleichberechtigten Teilhabe an sozialen Mindeststandards, globales Denken etc. pp. Hier ist in erster Linie die Politik gefragt. Aber ob man Politikern, die in undurchschaubare Interessensnetzwerke eingebunden sind und bei denen i. d. R. mehr ein kurzfristiges Denken von Wahlperiode zu Wahlperiode zu erwarten ist, in dieser Hinsicht vertrauen kann, sei jedoch dahingestellt. Auch die vielfältigen Interessengegensätze zwischen den Nationen erschweren eher die Inangriffnahme der Lösung globaler Probleme. Auf jeden Fall kommt dem 21. Jahrhundert eine Schlüsselrolle in der Geschichte der Menschheit zu, was die Menge und das Ausmaß der zu lösenden Probleme betrifft. Aber andererseits sind die Aussichten, diese Probleme in den Griff zu bekommen, vielleicht doch besser, als allgemein angenommen. Da der Mensch der Urheber aller dieser Probleme ist (und das auch selbstkritisch erkannt hat), liegt es auch in seiner Macht, sie zu lösen. Seine Chance liegt in seinem kreativen Potential, verbunden mit den neuen technischen Möglichkeiten, wie sie beispielsweise die modernen Telekommunikationsmittel bieten. Sie ermöglichen einen instantanen Austausch von Informationen, den Erwerb von Wissen (wenn man es nur will) sowie die Einflussnahme in politische Prozesse über Ländergrenzen hinaus durch eine globale Vernetzung vieler Millionen Menschen über soziale Netzwerke. Internet-Plattformen wie Wikileaks haben gezeigt, dass es für Regierungen und Geheimdienste nicht mehr so einfach ist, im Geheimen zu agieren und sie so einer verstärkten Kontrolle durch die Öffentlichkeit ausgesetzt sind. 

Wir wissen zwar nicht, wie die Welt in vielleicht 50 Jahren aussehen wird. Aber man kann heute durchaus mit dazu beitragen, dass sich die Welt mehr in einem positiven Sinn in Richtung Zukunft verändert.

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