Gerade jetzt in der kälteren Jahreszeit, wo es den auf Blumen und Schmetterlinge spezialisierten Naturfotografen etwas an Motiven mangelt, sollte man sein Auge und das "Auge" seiner Kamera auf die "Wunderwelt der Flechten" richten. Ihre Farbenpracht, ihre Formenvielfalt und insbesondere ihre Anpassungsfähigkeit an widrigste Umweltbedingungen machen sie zu wahrhaft faszinierenden Lebewesen auf unserer Erde. Dazu kommt noch ihre außergewöhnliche Biologie, die sie grundlegend von anderen Organismen unterscheiden. Es sind nämlich keine Einzelorganismen, sondern sie sind genaugenommen ein Netzwerk aus zwei völlig verschiedenen Organismen: einem Pilz und einem der Photosynthese fähigen Mikroorganismus - meist einer Alge oder einem Cyanobakterium. Beide bilden zusammen die "Flechte", die selbst in den unwirtlichsten Regionen der Erde noch zu wachsen und zu gedeihen vermag. Wie experimentelle Untersuchungen an bestimmten, in den Alpen lebenden Flechtenarten gezeigt haben, sind sie sogar in der Lage, unter den Bedingungen des Planeten Mars eine zeit lang zu überleben. Und wenn man sich nur einmal den Kontinent Antarktika anschaut, dann gibt es dort über einhundert mal mehr Flechtenarten als Pflanzenarten...
In der Biologie betrachte man Flechten als symbiotische Lebensgemeinschaften. Das bedeutet, dass sich hier zwei verschiedene Organismengruppen zum gemeinsamen Vorteil zusammengefunden haben. Die Hyphen des Pilzmyzels haften eng an den Zellen der Cyanobakterien oder den Algenfäden und durchdringen sie sogar teilweise. Während der Pilz Halt und Schutz bietet, bekommt er von den mit ihm assoziierten Mikroorganismus chemische Stoffe, die auf der Grundlage der Photosynthese gebildet werden und die zu synthetisieren der Pilz selbst nicht in der Lage ist.
Die Fortpflanzung von Flechten erfolgt durch Fragmentierung des als "Thallus" bezeichneten Vegetationskörpers in sogenannte Soredien. Jedes von ihnen besteht aus einer oder wenigen photosynthetisch aktiven Blaualgen - oder Algenzelle, die von Pilzhyphen umgeben sind. Sie können sich leicht von den "Fruchtkörpern" der Flechte lösen und mit dem Wind über große Entfernungen transportiert werden. Gelangen sie auf diese Weise auf ein geeignetes Substrat, dann können sie sich dort ansiedeln. Sofern es sich bei dem Pilz um einen Schlauch- oder Ständerpilz handelt, kann dieser auch alternativ den für Pilze typischen sexuellen Entwicklungsweg durchlaufen und dabei Ascosporen bzw. Basidiosporen erzeugen. Ihre Ausbreitung erfolgt hier ohne den photosynthetisch wirksamen Partner. Die daraus entstehenden Pilze müssen dann entweder ohne Symbiosepartner auskommen oder versuchen, einen am neuen Standort zu finden. In der Regel gehen sie aber ein.
Die extreme Widerstandsfähigkeit der Flechten in Bezug auf Kälte, Hitze und Trockenheit hat die Biologen schon seit langer Zeit fasziniert. Die moderne Biochemie beginnt nun langsam auch zu verstehen, welche Funktionsmechanismen- und biochemische Anpassungsleistungen dahinter stecken. So schützt einige Arten der komplex aufgebaute Farbstoff Parietin die Flechte vor der zerstörerischen UV-Strahlung der Sonne, vor der insbesondere die Gesteinsflechten der Hochgebirge gnadenlos ausgesetzt sind. Auch können Flechten aufgrund ihres fehlenden Verdunstungsschutzes in der Sonne quasi völlig austrocknen. Um das zu überleben, verfallen sie in einen biochemisch weitgehend inaktiven Zustand, in dem sie durchaus mehrere Monate verharren können. Dabei schützen spezielle Zucker (z. B. Trehalose) die Zellproteine weitgehend vor dessen Denaturierung. Nach "Wiederbefeuchtung" treten als erstes komplexe genetische Reparaturmechanismen in Aktion, welche in einem ersten Schritt die DNA der Pilze und Mikroorganismen wieder reparieren - ein Vorgang, der auch in Bezug auf die Humangenetik von großer Bedeutung ist (man denke nur an die Strahlenkrankheit und ihre klinische Behandlung).
Das Wachstum der Flechten hat sich an Trocken- und Feuchtigkeitsphasen sehr gut angepasst. Aus dem relativ konstanten jährlichen Größenwachstum vieler Gesteins- und Krustenflechten kann man sehr gut ihr Besiedlungsalter bestimmen. Da Flechten trotz ihrer Robustheit sehr empfindlich auf Luftschadstoffe reagieren, sind sie im Bereich smoggefährdeter Großstädte kaum mehr anzutreffen. Mit Verbesserung der Luftqualität kehren sie aber schnell wieder in ihre Lebensräume zurück, so dass man mittels Flechtenkartierungen sehr gut die Luftqualität über längere Zeiträume für ein gegebenes Gebiet indirekt ermitteln kann. Oder kurz gesagt, Flechten sind sehr gute ökologische Bioindikatoren.
Weltweit sind zwischen 24000 und 25000 Flechtenarten bekannt und beschrieben. In Deutschland gibt es etwa 2000 davon. Also genügend "Material", um sie selbst einmal mit Makrokamera und Einschlaglupe zu erforschen...
Gelbflechte (Xanthoria-parietina)
Trompetenflechte (Cladonia spec.)
Wunderschöne Flechtenaufnahmen, Mathias! LGT
AntwortenLöschenSehr viele Krusten- aber kaum Blatt- oder Strauchflechten: trotzden sehr schön!
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