In der Sowjetunion der Stalinzeit wurden auch Pseudowissenschaften gepflegt, soweit sie der herrschenden Ideologie – hier des Kommunismus in Stalinscher Ausprägung – diente. Ein herausragender Repräsentant war dabei der Agronom und Biologe Trofim Denissowitsch Lyssenko (1898-1976), dessen Lehren man heute als „Lyssenkoismus“ bezeichnet. Er war ohne Zweifel einer der höchstdekorierten Wissenschaftler der Sowjetunion: dreimaliger Stalinpreisträger, siebenmal mit dem Leninorden dekoriert, Held a) der „Sowjetunion“ und b) der „Sozialistischen Arbeit“, mehrfacher Deputierter des Obersten Sowjets und - man könnte schon fast sagen „natürlich“ - Präsidiumsmitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Und trotzdem war ein gewichtiger Teil seiner Arbeiten und Erkenntnisse „Cargo-Kult“ im besten Sinne des Wortes. Sein Fachgebiet war die Landwirtschaft, sein theoretischer Unterbau eine modifizierte Form des Lamarckismus - einer Evolutionslehre, die außerhalb der damaligen Sowjetunion so gut wie keine Anhänger mehr hatte - und seine Reputation erwuchs im Wesentlichen aus seiner Beziehung zu Josef Stalin, dessen Repressionsregime er sich nutzbar machte, um nicht nur Konkurrenten im Wissenschaftsbetrieb mundtot zu machen.
Lyssenko war der Auffassung (ähnlich wie Lamarck), das erworbene Eigenschaften vererbbar sind. Das passte sehr gut zur Irrlehre des „Wissenschaftlichen Kommunismus“, die u. a. davon ausgeht, dass sich durch Erziehung und Indoktrination ein neuer Menschenschlag, die „sozialistische Persönlichkeit“ - oder, genauer, der „Sowjetmensch“, erschaffen lässt, deren damals propagierte Eigenschaften sich von Generation zu Generation weiter vererben. Die „klassische Genetik“ mit den Genen war in dieser Hinsicht natürlich zutiefst „unsozialistisch“ und „bourgeois“, was deren Anhänger in der Sowjetunion der Stalinzeit natürlich in den kommunistischen Kreisen schnell verdächtig machte. Und einmal in den Fängen eines Lawrenti Beria (1899-1953) und seiner Häscher geraten, bedeutete das schnell Verlust der Karrieremöglichkeiten bis hin zu „Sibirien“ und Tod. Und Lyssenko war einer derjenigen, die diesen unvergleichlichen Repressionsapparat für sich nutzte, um Widersacher zu verdrängen, denen er weder charakterlich noch intellektuell gewachsen war und sich selbst in deren Positionen zu schieben. So ist auch leicht verständlich, dass nach Stalins Tod im Jahre 1953 mit Beginn der Aufarbeitung seiner Verbrechen auch der Stern Lyssenkos zu sinken begann. Unter Nikita Chruschtschow (1894-1971) wurde er schließlich als Präsident der Lenin-Landwirtschaftsakademie abgesetzt und seine nunmehr auch von der Staats- und Parteiführung als skurril erkannte Lehre nach und nach aus den Lehrplänen der Schulen und Hochschulen verbannt. Der Lyssenkoismus, der sich einst wie ein Mehltau über die Landwirtschaft der Sowjetunion legte, hatte ausgedient. Dabei war Lyssenko ein durchaus fleißiger Wissenschaftler mit Ideen, der pragmatisch, aber letztendlich auf der Grundlage falscher Überlegungen an die Züchtung neuer Pflanzen heranging. Dabei hatten es ihm insbesondere neue Getreidesorten angetan. So führte er Versuche durch, um aus „Winter-Weizen“ (der bekanntlich einmal überwintern muss) „Sommer-Weizen“ herzustellen, dessen Lebenszyklus auf einen Sommer begrenzt ist und der höhere Erträge erwarten ließ - und das in klimatischen Zonen, wo dessen Anbau gewöhnlich ein Risiko darstellt. Da er davon ausging, dass sich erworbene Eigenschaften vererben, feuchtete er Wintergerstenkörner an, ließ sie keimen und anschließend in Kühlhäusern lagern. Anschließend säte er sie wie Sommergerste aus und stellte fest, dass er aus „Wintergerste“ „Sommergerste“ gezüchtet hat, deren Ertrag den der normalen Sommergerste um mehr als 30% überstieg. Er glaubte, auf diese Weise „Wintergerste“ in „Sommergerste“ umgewandelt zu haben. Diese Züchtungsmethode nannte er „Jarowisation“. Sie erklärt sich durch einen den Botanikern als Vernalisation bekannten Prozess und hat nichts mit der Vererbung erworbener Eigenschaften zu tun. Nach sowjetischen Angaben betrug die Fläche, die 1938 mit jarowisiertem Getreide bestellt war, rund 18 Millionen Hektar und die damit erzielten Ertragssteigerungen waren durchaus beachtlich. Diese anfänglichen Erfolge begründeten seinen Ruf und um ihn begann sich auch so etwas wie ein Personenkult zu entwickeln. Er wurde in der Presse als „Genie“ tituliert, was ihn wiederum beflügelte, eine allgemeingültige „Theorie“ zur Erklärung dieser neuen Zuchtmethode zu entwickeln. Und damit verließ er die Pfade der seriösen Wissenschaft. Als großer Vorteil erwies es sich für ihn, dass seine schlichten Ideen bei Stalin auf offene Ohren stießen. Seine Erfolge wurden hochstilisiert, seine genau so vielen Misserfolge dagegen unter den Teppich gekehrt und seine Kritiker mundtot gemacht. In seinen theoretischen Schriften negierte er den Zufall bei evolutionären Prozessen und begründete das mit Zitaten von Lenin und Stalin.
Nach Lyssenko stellen die Erbanlagen so etwas wie ein „Konzentrat aus den Umwelteinflüssen“ dar, den das Lebewesen über Generationen ausgesetzt war. Auf dieser völlig falschen Prämisse entwickelte er schließlich eine Art „neuer Biologie“, die zwar ganz auf dem Fundament des „Dialektischen Materialismus“ stand, aber ansonsten mit Biologie an sich nur noch wenig zu tun hatte. Sie fand sogar Eingang in die Schullehrbücher der damaligen Sowjetunion. Darin konnte man lesen, dass es Lyssenko und seinen Mitarbeiter beispielsweise gelungen ist, Kiefern in Fichten und Weizen in Roggen zu verwandeln und das es bald Apfelbäume geben wird, welche selbst in den Kältesteppen Sibiriens eine reiche Ernte versprechen. Der Lyssenkoismus ist vielleicht das Paradebeispiel dafür, wie unter dem Einfluss einer politischen Ideologie Wissenschaft quasi durch ein Dogma ersetzt wird.
Die Lehre Lyssenkos ist aber nicht völlig auf dessen eigenem Mist gewachsen. Viele seiner Ideen gehen auf den großen Obstzüchter Iwan Wladimirowitsch Mitschurin (1855-1935) zurück, dessen praktische Erfolge (er entwickelte u. a. die Obstbaum-Propfung zur Perfektion) auch heute noch unbestritten sind. Nur dessen theoretische Überlegungen, die sich stark an Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829) anlehnten und die von Lyssenko übernommen wurden, waren schlicht falsch. Über ihn haben sich leider nur einige Spottverse erhalten, die auch heute ab und an noch zitiert werden: „Mitschurin hat festgestellt, dass Marmelade Schnaps enthält, drum essen wir auf jeder Reise Marmelade eimerweise...“ Oder, als es in den Anfangsjahren der DDR nur wenig oder keine Butter zu kaufen gab, kursierte unter der Bevölkerung der Reim: „Mitschurin hat festgestellt, dass die Butter Gift enthält. Um das Volk halt zu gesunden, ist die Butter nun verschwunden...“
Interessanterweise gibt es rund 40 Jahre nach Lyssenkos Tod doch Hinweise darauf, dass bestimmte erworbene Eigenschaften (z. B. Krankheitsbilder) unter gewissen Umständen an die Nachkommen weitergegeben werden. Die Funktionsweise dieser sogenannten epigenetischen Prozesse ist dabei durchaus an die Gene und deren Vererbungsmechanismen gebunden, aber nicht an die eigentliche genetische Information, die im DNA-Molekül hinterlegt ist. Ausschlaggebend sind hier spezielle epigenetische Faktoren, welche in der Lage sind, die Aktivität von Genen zu regulieren, indem sie diese oder Gruppen von ihnen in Bezug auf die Genexpression in der Zelle ein- oder ausschließen. Sie sind selbst nicht in der DNA lokalisiert, sondern in bestimmten Proteinen in den Chromosomen, genauer den Histonen. Diese Histone stellen quasi die „Spulen“ dar, um die sich ein DNA-Molekül bei Eukaryonten im kondensierten Zustand windet. Werden diese „Spulen“ chemisch verändert, hat das entsprechende Auswirkungen auf die Genexpression. Gerät ein Lebewesen z. B. unter Stress, d. h. durch veränderte Umweltbedingungen, Nahrungsmangel oder der Einwirkung von Giftstoffen, dann können bestimmte Histone dauerhaft chemisch markiert werden und auf diese Weise Einfluss auf das Verhalten von Körperzellen nehmen, in dem sie gewisse Gene permanent ein- oder ausschalten. Es scheint so - und entsprechende Experimente belegen es mittlerweile - dass derartige epigenetische Marker durchaus an die Nachkommen weitergegeben werden können. Es gibt sogar begründete Vermutungen darüber, dass bestimmte Krankheiten wie Diabetes oder Fettleibigkeit zu einem gewissen Teil epigenetisch bedingt sind. Deshalb ist die Erforschung der entsprechenden Mechanismen auch von großer gesundheitspolitischer Bedeutung.
Für die Erb- und Evolutionsbiologie ist die Epigenetik ein neuer Ansatzpunkt zur Erklärung erbbiologischer Auffälligkeiten. Nehmen wir z. B. die Honigbiene, um mal ein Beispiel aus der Tierwelt zu bemühen. Bekanntlich sieht dieses Insekt im frühen Larvenstadium immer gleich aus. Diejenigen Larven, die von den Ammenbienen mit einem Gemisch aus Honig und Pollen gefüttert werden, entwickeln sich zu sterilen Arbeitsbienen. Die Larve hingegen, die mit Gelée royale (Weiselfuttersaft) gefüttert wird, ändert ihre Gestalt und entwickelt sich zu einer eierlegenden Bienenkönigin. Dabei sind die Gene der Arbeitsbienen und der Bienenkönigin völlig identisch. Es scheint so, dass die Nahrung - hier die Honig-Pollen-Mischung - zur expliziten Abschaltung bestimmter Entwicklungsgene führt. Der chemische Mechanismus, der insbesondere auf die Histone wirkt, nennt man Methylierung. Darunter versteht man das „Anhängen“ bzw. „Entfernen“ von Methylgruppen an bestimmten Histon-Proteine mit dem Effekt, dass sich damit die Genexpression steuern lässt. Und das Bemerkenswerte dabei ist, dass sich mit speziellen Pharmaka gezielt Einfluss auf diesen Vorgang nehmen lässt, was neue therapeutische Ansätze bei gewissen Krankheiten verspricht. Erste Erfolge gibt es beispielsweise bei der Erkennung von Krebszellen, bei denen die Gene abgeschaltet sind, welche das krankhafte Zellwachstum normalerweise verhindern. Weiterhin sind, wie man erst seit wenigen Jahren weiß, epigenetische Fehlsteuerungen für die Entstehung bestimmter immunologischer und neuronaler Erkrankungen sowie diverser Wachstumsstörungen von Bedeutung. Darunter fallen beispielsweise auch seltene Erkrankungen wie das Silver-Russel-Syndrom (eine spezielle Form der Kleinwüchsigkeit), die man unter dem Begriff Genomic Imprinting (genomische Prägung) zusammenfasst.
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