Etwas Physik: Die Dämonentheorie der Reibung sowie ein paar Gedanken zur Methode der "Quaestio disputata"

Bild: VDI Wissensforum GmbH / Fotalia

Ich möchte in meinen heutigen kleinen Blogbeitrag auf eine Theorie hinweisen, die trotz ihrer Stringenz und ihrer Eleganz noch keinen Eingang in das Curriculum des gerade für Techniker so wichtigen Fachgebiets der Tribologie gefunden hat. Sie erblickte bereits im Jahre 1960 in dem von Eric M. Rogers verfassten Buch „Physik für den forschenden Geist“ (Physics for the Inquiring Mind, leicht im „Web“ zu finden) das Licht der Welt, blieb aber leider weitgehend unbeachtet. Das ist Schade, denn sie nimmt für sich in Anspruch, ein sehr schwieriges Phänomen abschließend zu behandeln  nämlich die Reibung. Diese Theorie lässt sich am besten in Form eines Dialogs eines Anhängers der Theorie (A) und eines Skeptikers (S) vorstellen. Es handelt sich um die „Demon theory of friction“. Beginnen wir also:

S: Ich glaube nicht an Dämonen.
A: Ich schon.

S: Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, wie Dämonen Reibung erzeugen.
A: Sie stellen sich gegen die Dinge und bringen sie zum Stillstand.

S: Ich kann auch auf der rauesten Tischfläche bei bestem Willen keine Dämonen erkennen.
A: Sie sind zu klein und außerdem völlig durchsichtig.

S: Auf rauen Flächen ist die Reibung stärker.
A: Dort gibt es ja auch mehr Dämonen.

S: Wenn ich aber Öl dazugebe, verringert sich die Reibung.
A: Öl verjagt ja auch die Dämonen.

S: Wenn ich nun aber den Tisch poliere, dann wird die Reibung geringer und ein Ball rollt weiter.
A: Sie putzen ja damit auch die Dämonen weg. Es stemmen sich dann weniger gegen den Ball und der Ball kommt erst nach einer größeren Strecke zum halt.

S: Aber eine schwerere Kugel erzeugt mehr Reibung und es knirscht beim Rollen.
A: Es stemmen sich halt mehr Dämonen dagegen und ihre Knochen zerbersten, was deutlich zu hören ist.

S: Wenn ich einen Ziegel auf den Tisch lege und ihn mit wachsender Kraft gegen die Reibung zu schieben versuche, dann wird er sich bis zu einer Grenze nicht bewegen, da die Reibung jeweils die von mir ausgeübte Kraft aufhebt.
A: Natürlich stemmen sich die Dämonen gerade so stark dagegen, dass sich der Ziegel trotz der von ihnen aufgewendeten Kraft nicht bewegt. Allerdings sind ihre Kräfte nicht unbegrenzt und ab einem Punkt kollabieren sie.

S: Wenn ich aber stark genug anschiebe und den Ziegel in Bewegung setze, tritt Reibung auf, der den Ziegel in seiner Bewegung bremst.
A: Ist logisch, denn wenn die Dämonen kollabiert sind, dann werden sie von dem Ziegel zermahlen. Es sind ihre zermalmten Knochen, die sich der gleitenden Bewegung des Ziegels entgegensetzen.

S: Ich kann sie aber nicht spüren.
A: Reiben Sie mit ihrem Finger auf dem Tisch.

S: Reibung folgt aber gewissen Gesetzen. So ist experimentell erwiesen, dass die Reibung den gleitenden Ziegel mit einer geschwindigkeitsabhängigen Kraft bremst.
A: Selbstverständlich wird immer die gleiche Anzahl von Dämonen zermahlen, ganz gleich, wie rasch man über sie hinwegfährt.

S: Wenn ich mit einem Ziegel immer wieder über den Tisch fahre, dann ist die Reibung jedes Mal die gleiche. Die Dämonen wären doch schon beim ersten Mal zermahlen worden.
A: Bedenken Sie, Dämonen vermehren sich unglaublich rasch.

S: Und dann gibt es doch auch noch andere Reibungsgesetze. Die Bremsung ist z. B. proportional zum Druck, mit dem beide Oberflächen aneinandergepresst werden.
A: Dämonen leben in den Poren der Oberfläche. Ein höherer Druck fordert eine größere Anzahl von ihnen heraus. Sie stemmen sich dann dagegen und werden zermahlen. Dämonen funktionieren genau wie die Kräfte, die Sie bei ihren Experimenten gefunden haben.

Und nun wieder ernst.

Nach diesem Schema (haben Sie es durchschaut?) kann man selbstverständlich noch viele andere „Theorien“ zur Erklärung spezieller Phänomene erfinden. Sie sind künstlich, bieten dabei so gut wie keinen Bezug zu weiteren damit im Zusammenhang stehenden physikalischen Prozessen und sie lassen sich auch nur bedingt mathematisch fassen. Kurz gesagt, solch eine Theorie ist überflüssig, aber keinesfalls nutzlos – denn sie ist zumindest unterhaltsam, weshalb ich sie hier auch vorgestellt habe… Trotzdem möchte ich abschließend die Aufmerksamkeit ganz explizit auf die „Darbietungsform“ der Dämonentheorie der Reibung lenken. 

Dabei handelt es sich um eine als „Quaestio“ benannte Methode der Disputation, die im Mittelalter von den Scholastikern genutzt wurde, um solche auch heute noch nicht völlig gegenstandslos gewordenen Fragen wie „Was ist größer: die Freude des Wolfes, wenn er das Lamm erblickt, oder die Angst, von der das Lamm angesichts des Wolfes befallen wird“ oder die praktisch wichtigere „Ist es gesund, sich einmal monatlich zu betrinken“ einer Klärung zuzuführen. Derartige Fragen nennt man auch „scholastische Fragen“. Sie wurden an den frühen europäischen Universitäten mit großem Ernst und Eifer in Rede und Gegenrede unter strenger Beachtung logischer Gesetze diskutiert – und oft auch so in Briefen, Abhandlungen und Dissertationen festgehalten. So entstand die Literaturgattung der Quaestio, der sich selbst Galileo Galilei in seinem „Dialogo sopra i due massimi sistemi“ (Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, 1632) noch bediente. 

Wann die Methode der Quaestio genau entstanden ist, lässt sich mit Sicherheit nicht sagen. Sie hat sich seit dem 6. Jahrhundert (A. M. S. Boethius, ungefähr 480-526 n. Chr.) ganz allmählich entwickelt bis sie schließlich kanonisiert fester Bestandteil der universitären Ausbildung wurde. Die früheste namentliche Erwähnung findet sich übrigens in den Statuten der Pariser Universität, die aus dem Jahre 1215 stammen. Sie wurde im Anschluss an eine Vorlesung (lectio) als Disputation zwischen Lehrer und Student bzw. zwischen zwei Studenten (d. h. als Widersprechender und Antwortender, oben „S“ und „A“) in erster Linie zur Festigung des Lehrstoffs und zur Schulung des logischen Denkens als quaestio disputata abgehalten. Auch die mündliche Prüfung zur Erlangung eines akademischen Grades erfolgte in Form eines zumeist öffentlichen wissenschaftlichen Streitgesprächs. Noch Martin Luther wollte übrigens mit seinen 95 Thesen solch ein öffentliches Streitgespräch quasi erzwingen, was bekanntlich wegen der Brisanz des Themas nicht so richtig gelang, aber schließlich zur Reformation führte. Doch zurück zur „Quaestio“. Ihr Hauptgegenstand waren die „Heiligen Schriften“, also die Schriften der Bibel, der Kirchenväter und der antiken Philosophen. Daraus wurden die jeweiligen Fragestellungen abgeleitet, die dann einer Disputation zugeführt wurden. Im Falle der Quaestio bestand sie immer aus drei Teilen, an denen neben dem Hochschullehrer jeweils ein Opponens und ein Respondens beteiligt waren. Die Aufgabe des Einen bestand darin eine Aussage zu formulieren, die dann im Wechselgespräch zwischen These und Gegenthese einem Fazit zugeführt wurde. Heute kommt wohl eine klassische Podiumsdiskussion, bei der Leute mit Verstand und höflich miteinander diskutieren, dieser Methodik noch am nächsten. Ein Nachteil aus heutiger Sicht war lediglich, dass bei dieser durchaus wissenschaftlichen Methode die Voraussetzung – z. B. das Zitat eines Kirchenvaters oder eine Zeile aus der Bibel – niemals in Zweifel gezogen wurde, was dann zu den aus heutiger Sicht (zumindest für Nicht-Theologen) absonderlichsten Schlussfolgerungen geführt hat. 

Questiones waren aber natürlich nicht nur der Theologischen Fakultät vorbehalten. Besonders schöne „Blüten“ (d. h. „Fragestellungen“ bzw. sogar Dissertationsthemen) haben sich aus der Medizinischen Fakultät erhalten. Sie trugen dazu bei, dass dieses Wissensgebiet eher einen Rückschritt nahm, als dass dort fortschrittlichere Ideen, die z. B. die eines Galenos von Pergamon (um 130-215 n. Chr.) übertrafen, entwickelt wurden. Hier eine kleine Auswahl von Themen, mit denen sich die damaligen akademischen Ärzte beschäftigten und in Folge den Spott der Humanisten auf sich zogen: „Hat Gott den menschlichen Schädel als Sitz des Gehirns oder eher als Fenster für die Augen geschaffen?“ – „Gleicht der Embryo mehr der Mutter oder eher mehr dem Vater?“ – „Verursachen Ausschweifungen Glatzköpfigkeit?“ - „Ist es der Gesundheit förderlich, wenn man nur von Wasser und von Brot lebt?“ – „Ist das Weib ein unvollkommeneres Geschöpf als der Mann?“ etc. pp. Diese Themen (bis auf das erstere) wurden übrigens – was schriftlich belegt ist – allesamt mit der nötigen Ernsthaftigkeit im 14. und 15. Jahrhundert an der Pariser Universität abgehandelt.

Es gab aber durchaus in der Scholastik Themen, die auch heute noch von Interesse sind. Nehmen wir einmal die in theologischen Kreisen nicht ganz unwichtige Frage, ob der „Allmächtige“ auch wirklich allmächtig ist. Dieses Problem lässt sich auf eine einfache und jedermann verständliche Frage herunterbrechen und die da – ganz in scholastischer Tradition – wie folgt lautet: 

Kann Gott als ein allmächtiges Wesen einen so schweren Stein erschaffen, dass er ihn selbst nicht hochheben kann?“. 

Versucht man rein logisch diese Frage auf seine Antwortalternativen abzuklopfen, bemerkt man sehr schnell, dass es sich hierbei um ein Paradoxon handelt. Kann er nämlich einen solchen Stein erschaffen, ist er nicht allmächtig (er kann ihn ja nicht hochheben). Wenn Gott jedoch einen solchen Stein nicht erschaffen kann, so kann er gemäß der Fragestellung auch nicht allmächtig sein. Man kann es drehen und wenden wie man will, ohne scholastische Gedankenakrobatik lässt sich das Paradoxon nicht auflösen – und Gott kann demnach bereits aus logischen Gründen keinesfalls allmächtig sein. Der Begriff „Allmächtiger“ kann man deshalb durchaus als Anmaßung betrachten. Aber Spaß beiseite. Das Paradoxon lässt sich durchaus vermeiden, wenn man es etwas umformuliert. Man muss nur ein konkretes Gewicht des Steins vorgeben (so groß es auch sein mag). In diesem Fall gilt nämlich die Aussage: Ja, er kann einen mit diesem Gewicht erschaffen und ja, er kann den Stein mit genau diesem Gewicht heben. Und natürlich würde heute niemand mehr auf solch eine Fragestellung kommen, denn ein Gewicht ist bekanntlich eine schwerefeldbedingte Kraft die nur Sinn macht, wenn eine Masse unter die Wirkung eines Schwerefeldes gerät. 

Man ist heute geneigt, Scholastiker aufgrund ihrer teilweisen bizarren Fragestellungen zu belächeln. Aber damit wird man ihnen und ihrer Zeit nicht gerecht. Die scholastische Methode geht ursprünglich auf Aristoteles zurück und bedeutet, dass man versucht, wissenschaftliche bzw. theologische Fragestellungen dadurch zu lösen, indem man rein theoretisch und nur der Logik verpflichtet Argumentationsketten aufbaut, die sich entweder auf eine Aussage der antiken Koryphäen (oder Kirchenlehrer) logisch stringent zurückführen lassen oder bei der man zeigen kann, dass dies durch begriffliche Unklarheiten nicht möglich ist. Man denke dabei an die kolportierte Geschichte, nach der einst Galileo Galilei seinen universitären Kollegen sowie hohen Kirchenvertretern in seinem selbstgebauten Fernrohr die von ihm kurz zuvor entdeckten Jupitermonde zeigen wollte und sich die meisten unter ihnen mit dem Hinweis darauf weigerten, durchs Fernrohr zu schauen, weil darüber bei Aristoteles nichts zu lesen sei. Das mag uns heute befremdlich erscheinen. Aber in der Scholastik galt Empirie nicht viel.

Was sich aber im Schatten dieser Methode entwickelt hat und heute noch fortlebt, ist die Einheit von Forschung und Lehre, die Vorlesung als probate Methode der Wissensvermittlung, die Prüfung und Disputation als Voraussetzung für die Erlangung akademischer Grade sowie – nicht zu unterschätzen – die akademische sowie die Lehrfreiheit (ach so, Bachelor und Master habe ich noch vergessen). Was dagegen überwunden wurde, ist u. a. der unbedingte Autoritätenglaube, die Verachtung der Empirie und – was mit das Wichtigste ist – höhere Schulen sind keine reinen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, (christliche) Männervereine mehr.

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