Versinken im Treibsand - ein Millenium-Problem...



„Treibsand“ ist genaugenommen eine Dispersion von feinem Sand und Wasser, wie sie in der Natur nur selten vorkommt (berüchtigt ist in diesem Zusammenhang der Rand des Namak-Sees im Iran - aber dass in dessen Treibsand Menschen auf Nimmerwiedersehen versinken, wie Einheimische gern behaupten, ist trotzdem nur ein Märchen). Man bekommt ihn höchstens einmal im Fernsehen oder im Kino zu Gesicht, wenn man sich Abenteuerfilme der frühen 1960er Jahre anschaut. Denn damals war das „Versinken“ im Treibsand ein beliebtes Stilmittel zur Erhöhung der Spannung der jeweiligen Handlung (denn je mehr sich das Opfer bewegte, um sich zu befreien, desto schneller versank es im Sand - eine grauenhafte Vorstellung). Man denke hier nur an das mit sieben Oscars gekrönte Werk „Lawrence von Arabien“ mit Peter O’Toole und Omar Sharif in den Hauptrollen. Dort gibt es eine sehr eindrucksvolle Szene, in der einer der Diener von T.E. Lawrence (der meisterhaft von Peter O’Toole gespielt wurde) vor den Augen seines Herrn, ohne dass der ihm helfen konnte, im Treibsand versinkt. Nur ist diese Szene nicht gerade physikalisch exakt dargestellt. Aufgrund der hohen Gesamtdichte der Wasser-Sand-Dispersion wird nämlich ein Mensch darin nicht weiter als, sagen wir, bis zum Bauch, einsinken können, da die Dichte des menschlichen Körpers immer geringer ist als die des Treibsandes. Aber ohne Hilfe von außen wird sich ein Mensch trotzdem in den meisten Fällen nicht aus dieser misslichen Lage befreien können - da er quasi im „Schlamm“ stecken bleibt.

Und nun noch ein paar Worte zur Erklärung des Phänomens einer solchen dilatanten Treibsanddispersion: In Ruhe liegen in ihr die feinen Sandkörner dicht gepackt vor, wobei die Zwischenräume zwischen den Körnern vollständig mit Wasser gefüllt sind. Wird dieses Gemenge nun einer Scherbelastung ausgesetzt, so gleiten die Sandpartikel aneinander vorbei, wobei das Wasser gewissermaßen als Schmiermittel wirkt und damit die Reibung insgesamt herabsetzt. Ein Körper (z. B. unser Hammer im Beispiel des Maisstärkebreis) wird dann mit einer von der Scherrate abhängigen Geschwindigkeit einsinken. Steigt die Scherbelastung an (Hammerschlag), so wird der Abstand zwischen den Sandkörnern etwas größer und der sie verbindende Wasserfilm reißt mit dem Effekt, dass die Schmierwirkung abnimmt und der Reibungswiderstand entsprechend stark ansteigt.

Übrigens, wenn man ein Schwimmbecken mit der bereits erwähnten zähflüssigen Maisstärkedispersion füllt, dann kann man es Jesus gleichtun (z. B. Johannes 6, 16-21) und mit schnellen Schritten darüber laufen ohne zu versinken. Wenn man aber stehenbleibt, geht es einem wie dem berühmten Taucher in Arthur Schramms bekannten Zweizeiler ...

Normale Flüssigkeiten sind in ihren fluiden Eigenschaften im Vergleich zu dilatanten Flüssigkeiten auf dem ersten Blick sehr einfach strukturiert. Man kann für sie analog zu dem berühmten Newtonschen Bewegungsgesetz, nach der „Kraft = (träge) Masse mal Beschleunigung“ ist, auch eine Bewegungsgleichung aufstellen, welche in der Lage ist, alle Strömungsphänomene „newtonscher Flüssigkeiten und Gase“ grundsätzlich zu beschreiben. Man nennt sie nach ihren Urhebern „Navier-Stokes-Gleichung“.

Um Sie etwas zu erschrecken, möchte ich die Gleichungen (es handelt sich um ein System nichtlinearer partieller Differentialgleichungen) hier mal kurz aufschreiben, ohne sie aber gebührend erklären zu wollen oder auch nur zu können (dafür gibt es umfangreiche Fachliteratur). Es geht hier lediglich um die „Optik“, damit Sie einmal sehen, mit was sich Mathematiker, Physiker, Meteorologen sowie Ingenieure aus dem Fachbereich der Strömungsmechanik beruflich so herumschlagen müssen:

Navier-Stokes-Gleichungen


Die Anwendungsfälle dieses Gleichungssystems sind enorm. Man benötigt es beispielsweise, um die Windschnittigkeit von PKW zu optimieren sowie für die Berechnung der Flügelprofile und der Auslegung der Triebwerke moderner Passagier- und Kampfflugzeuge. Astrophysiker benutzen es, um „Jets“, die aus den Kernen aktiver Galaxien (Quasare) herausschießen, mathematisch zu simulieren und um auf diese Weise ihre Funktionsprinzipien immer besser zu verstehen. Für den Meteorologen, der sich mit den komplexen Strömungsvorgänge in der unteren Erdatmosphäre auseinander setzen muss, sind sie genauso unverzichtbar wie für den Ingenieur, dessen Aufgabe beispielsweise in der Entwicklung moderner Kraftwerksanlagen oder Schiffsantrieben liegt. Kurz gesagt, die Navier-Stokes-Gleichungen sind ein Gleichungssystem mit überragender praktischer Relevanz. Und hier liegt auch schon das Problem. Man weiß bis heute nicht (bis auf ein paar triviale Einzelfälle), wie man sie exakt (d. h. analytisch) lösen kann. „Numerisch“ - d. h. mit Hilfe von Computern - Näherungslösungen für alle möglichen Anwendungsfälle zu finden, ist dagegen kein Problem mehr. Trotzdem wäre es von allergrößter Bedeutung zu beweisen, dass es für die Navier-Stokes-Gleichungen exakte Lösungen gibt - und zwar egal, wie die Anfangsbedingungen aussehen. Denn dann könnte man deren zeitliches Verhalten quasi determiniert erforschen und so zu neuen Einsichten in komplexe dynamische Systeme, die oft mit dem Begriff des deterministischen Chaos verbunden werden, gelangen. Man denke hier an die kurzfristige Wetter und langfristige Klimavorhersage, an die Bewegung von Planeten und Planetoiden um Sterne (Stichwort n-Körperproblem), an komplexe Lebensvorgänge oder an die Entwicklung von Börsenkursen, die sich im Detail bekanntlich kaum vorhersagen lassen. Aus diesem Grund wurde die Frage nach exakten Lösungen der Navier-Stokes-Gleichungen auch in die Liste der 7 „Milleniumsprobleme“ der Mathematik aufgenommen, für deren Lösung jeweils ein Preisgeld von einer Million US-Dollar ausgelobt sind. Wer also Zeit und Muße hat und obendrein noch eine Million Dollar verdienen möchte...

Übrigens, bis heute (2017) konnte nur eines von diesen sieben Problemen gelöst werden, die sogenannte Poincaré-Vermutung. In die Überprüfung der Lösung wurden allein mehrere Jahre Arbeit hochkarätiger Spezialisten investiert, bis die Gemeinde der Mathematiker sicher war, dass der von dem extravaganten russischen Mathematiker Grigori Perelman vorgelegte (aber niemals von ihm selbst in einer mathematischen Fachzeitschrift veröffentlichte) Beweis korrekt ist. Von der Öffentlichkeit ist dabei weniger die intellektuelle Leistung des mittlerweile freiwillig arbeitslosen Mathematikers als dessen Weigerung, sowohl die Fields-Medaille (quasi der „Nobelpreis“ für junge Mathematiker) als auch das Preisgeld anzunehmen, mit Aufmerksamkeit bedacht worden. Übrigens, wer einmal etwas Anspruchsvolleres als diesen Text lesen möchte, die Arbeiten von Grigori Perelman sind leicht im Internet zu finden (ArXiv)…



Jupiteratmosphäre - Navier-Stokes in Aktion!

Einführung in die Theorie der Navier-Stokes-Gleichungen (pdf)

Sie haben abends nichts vor? Sie haben ein Faible für Mathematik? Sie brauchen etwas Kleingeld?

Hier die sieben Milleniumsprobleme...

Versuchen Sie aber nicht Nummer 2  (Poincarè-Vermutung) - Sie wurde von Herrn Perelman bereits erledigt:


Hier kann man seine Lösung nachlesen (pdf)

Teil 1
Teil 2
Teil 3

Die Fields-Medaille

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