Wer kennt noch Denis Diderot?




Denis Diderot (1713-1784) gilt – und das zu Recht – als der große Enzyklopädist und damit als einer der wichtigsten Wegbereiter der Französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Er schaffte es als großer Organisator und Herausgeber, fast alle Geistesgrößen jener Zeit für ein Projekt zu begeistern, einer Wissenssammlung, eines „Kreises von Kenntnissen“ (enkyklios paideia), in dem nach Wörtern oder kurzen Phrasen geordnet, deren Bedeutung erklärt, beschrieben und in einen größeren Zusammenhang eingeordnet werden. Über seinen ersten Lebensabschnitt, etwa bis 1745, ist nur wenig bekannt. In diesem Jahr 1745 veröffentlichte er, noch anonym, seine „Philosophischen Gedanken“, die ihn bereits als einen Mann auszeichnen, dessen Gesicht das Jahrhundert entscheidend mitbestimmen und zum „siècle des lumières“, zum „Zeitalter des Lichts“ machen soll.

Die Idee einer allumfassenden Enzyklopädie kam nicht aus dem Nichts, sondern wurde anhand eines Vorbilds geboren. Im Jahre 1728 erschien in London ein zweibändiges Werk mit dem Titel „Cyclopaidia or Universal Dictionary of Arts and Sciences“ von einem gewissen Ephraim Chambers (1680-1740) als Autor. Als Übersetzer in das Französische wurde vom Pariser Verlag Le Breton der junge Denis Diderot gewonnen, der ein regelmäßiges Einkommen brauchte, aber ansonsten nicht sonderlich hohe Ansprüche an seine Bezahlung stellte. Irgendwann zu jener Zeit kam die Idee auf, es nicht bei der Übersetzung zu belassen, sondern ein eigenes und bedeutend umfangreicheres Werk zu verfassen. 1747 konnte dafür d’Alembert (1717-1783), ein damals schon bedeutender Mathematiker und Philosoph sowie Mitglied der Französischen Akademie der Wissenschaften, gewonnen werden. Durch seine Hilfen konnten weitere Autoren für das Projekt begeistert werden, darunter solche schillernde Persönlichkeiten wie Charles-Louis de Montesquieu (1689-1755), Bernard le Bovier de Fontenelle (1657-1757) und, nicht zu vergessen, Voltaire. 1749 schien das Projekt zu platzen, als Diderot verhaftet und in der Festung Vincennes eingesperrt wurde – u. a. wegen seiner „Philosophischen Gedanken“, die den Behörden ein Dorn im Auge waren. Erst nach einhundertzwei Tage Haft konnte er nach einem Schuldbekenntnis und der Intervention seiner Verleger, die ihr vorgeschossenes Geld schon verloren sahen, aus der Haft befreit werden. 

1750 erschien Diderot’s „Prospekt der Enzyklopädie“, in der er Sinn, Zweck und Aufbau des geplanten Werkes bekannt gab und das in erster Linie der Gewinnung von Subskribenten diente. Am 1. Juli 1751 konnte dann endlich der erste Band erscheinen, was wütende Angriffe des Klerus (insbesondere der Jesuiten) zur Folge hatte und der Enzyklopädie noch mehr Aufmerksamkeit zuteilwerden ließ. 1752 war dann das Jahr der Zensoren, die kein gutes Blatt an den aufklärerischen Artikeln der Enzyklopädie ließen und schließlich deren Verbot auf königlichen Befehl erwirkten. Das Verbot sollte der damalige königliche Direktor des Verlagswesen mit Namen Chrétien-Guillaume de Lamoignon de Malesherbes (1721-1794) durchsetzen, der aber Diderot warnte. Diderot übergab danach heimlich das Manuskript an de Malesherbes und ging für einige Zeit in die Illegalität. Offiziell beauftragte Malesherbes unterdessen die Polizei, das Manuskript bei Le Breton zu beschlagnahmen, was, wie könnte es auch anders sein, natürlich misslang. 

Die Enzyklopädie hatte mittlerweile auch viele Freunde in Regierungskreisen gewonnen. Insbesondere Madame de Pompadour (1721-1764), die gebildete Mätresse Ludwig XV., nutzte ihren Einfluss, um bereits drei Monate nach dem Verbot dessen Aufhebung durchzusetzen, was ihre manche Kreise bei Hofe übelgenommen haben sollen. Nein, die französische Regierung trat sogar ganz offiziell an d’Alembert heran und befahl ihm und Diderot, die Enzyklopädie fortzusetzen. So konnte endlich im November 1753 deren dritter Band erscheinen. Mit dem 7. Band, der im November 1757 erschien, erreichte man den Buchstaben „G“. Das war just das Jahr, als Robert-François Damiens (1715-1757), von Beruf „erfolgloser Attentäter“, sein fehlgeschlagenes Attentat auf Ludwig XV. ausführte und damit dem berühmten Henker von Reims, Nicolas-Charles-Gabriel Sanson (1721-1795) und dessen Neffen Charles Henry Sanson (1739-1806) zu einem öffentlichkeitswirksamen Auftritt verhalf. Die Hinrichtung war besonders grausam (Vierteilung), denn es handelte sich immerhin um versuchten Königsmord. Näheres dazu kann in den „Tagebüchern der Henker von Paris“, Band 1, nachgelesen werden (z. B. in Google Books), in welchen dem Attentat auf Ludwig XV. ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Im Zusammenhang mit diesem Attentatsversuch wurden in Frankreich die Gesetze verschärft, die das Schreiben und Drucken von Büchern und Journalen regelten. Klerikale Kreise nutzten das für eine rechtliche Handhabe gegen die „Enzyklopädisten“, denen sie indirekt die Anstiftung Damiens zu seiner Tat zuzuschieben versuchten. Und sie hatten erst einmal Erfolg. Zuerst musste d’Alembert sein Amt als Mitherausgeber aufgeben, dann wurde im März 1759 die königliche Lizenz für die „Enzyklopädie“ zurückgezogen. Das Projekt schien am Ende zu sein. Aber die Autoren arbeiteten illegal unter wohlwollender Duldung Malesherbes weiter, so dass sie 1765 das vollständige, nun siebzehnbändige Textwerk an ihre Subskribenten ausliefern konnten. 1772 waren dann auch noch die elf Bildbände fertiggestellt. 

In der Hochzeit der Auslieferung musste der Verlag über 200 Personen, d. h. Papierhersteller, Drucker, Buchbinder und Kupferstecher, beschäftigen. Eine Gesamtausgabe des Werkes kostete 1772 rund 900 Livre, was ungefähr das 1,5fache des Jahresverdienst eines an sich schon gut bezahlten Lyoner Seidenarbeiters entsprach. Kommerziell war die Enzyklopädie, an deren Texten sich ungefähr 160 Personen beteiligten, für den Verlag ein voller Erfolg. Dieses Werk und seine vielen Nachfolger waren für Generationen „die“ Quelle des Wissens, in dem man nachschlagen, aber auch schmökern konnte. Auch heute lohnt es sich noch, darin den einen oder anderen Artikel zu lesen, um zu sehen, was die Menschen im 18. Jahrhundert so wussten und dachten. Hier ein Beispiel – der Begriff „Verrücktheit“, wie er im siebenten Band abgehandelt wird: 

Weicht man unwissentlich von der Vernunft ab, weil man ideenlos ist, so ist man dumm; weicht man wissentlich, wenn auch mit Bedauern von der Vernunft ab, weil man Sklave einer heftigen Leidenschaft ist, so ist man schwach; Weicht man aber getrost von ihr ab, nämlich in der Überzeugung, dass man ihr folgt, so ist man, wie mir scheint, verrückt. Das sind zumindest jene Unglücklichen, die man einsperrt und die sich von den anderen Menschen vielleicht nur dadurch unterscheiden, dass ihre Verrücktheiten von seltenster Art sind und nicht in die Ordnung der Gesellschaft passen… (d’Aumont)“. 

Oder hier noch ein Begriff aus der Kategorie „Küche“, wie er im vierzehnten Band abgehandelt wird – Sauerkraut: 

Dieses Wort verstümmeln die Franzosen zu „choucroute“. Es ist ein in Deutschland überall beliebtes Gericht; Sauerkohl liegt ihm zugrunde; daher sein deutscher Name. Sauer bedeutet Säure, Kraut bedeutet Kohl. Wenn man Sauerkraut machen will, so schneidet man zunächst Weißkohl in sehr dünne Scheiben; die Deutschen haben für diesen Zweck ein Brett, das einem Hobel ähnelt und mit einem scharfen Messer versehen ist. Reibt man den Kohl an dieser Art Hobel, so wird er in dünne Scheiben geschnitten, die unter dem Hobel von einem Trog aufgefangen werden. Wenn man eine ausreichende Menge angehäuft hat, bringt man den auf diese Weise kleingeschnittenen Kohl in Fässer, Schicht für Schicht, die man jeweils mit Salz und einigen Wacholderbeeren bestreut; sobald das Fass voll ist, bedeckt man es mit einem Brett und legt ein Gewicht darauf, damit der zerschnittene Kohl zusammengepresst wird. Man bringt das Ganze in einen Keller und lässt es einige Wochen lang gären. Wenn man den Kohl essen will, wäscht man ihn und lässt ihn mit Pökelfleisch, Würsten, Rebhuhn und – je nach Wunsch – auch mit anderem Fleisch kochen. Dieses Ragout wird von den Deutschen sehr geschätzt; es wird auf der Tafel der Reichsten ebenso serviert wie auf dem Tisch der Ärmsten. Die Fremden gewinnen an ihm kaum Geschmack; doch scheint dieses Ragout für Seeleute auf weiten Reisen recht nützlich zu sein …“. 

Enzyklopädien in gedruckter Form waren bis vor kurzem wichtige Wissenssammlungen und Nachschlagewerke, die in irgendeiner Form, ob als wuchtiger „Brockhaus“ oder als kleines Taschenlexikon, in keinem Haushalt des Bildungsbürgertums fehlen durfte. 
Eine der ältesten und auch heute noch bestehenden Enzyklopädien stellt die 32-bändige „Encyclopædia Britannica“ dar, die aus rund 44 Millionen Wörtern besteht und damit 300-mal mächtiger ist als dieses kleine Büchlein, welches Sie gerade lesen. Sie entstand um 1768 in Schottland und wird auch heute noch weiter gepflegt – dem Geist der Zeit und den technischen Möglichkeiten entsprechend aber seit 2012 nur noch in digitaler Form. Denn mit dem Aufkommen enzyklopädischer Werke im Internet haben die gedruckten, teuren und viel Platz einnehmenden Varianten quasi ihre Daseinsberechtigung verloren. Mit dem genialen Projekt der Wikipedia (die aber auch viele Schwächen aufweist, insbesondere in den mehr politischen Traktaten) hat die Enzyklopädie auch ihren elitären Charakter verloren, die nun – im Sinne Diderots – zur Wissensquelle eines jeden (soweit er Zugang zum Internet hat) geworden ist. 

Neben den „Großen Enzyklopädien“ sind im Laufe der Zeit unzählige „kleine“ und auch sehr spezielle, zum Teil auch kuriose, entstanden.

So fiel es einem unbekannten Autor in den Jahren nach der Französischen Revolution auf, dass aus vielen ehemaligen Royalisten auf einmal glühende Republikaner geworden sind, die nun begannen, unter den neuen Verhältnissen wieder Karriere zu machen. In Deutschland Anfang der 1990er Jahre hat man zur Kennzeichnung solcher Personen das Wort „Wendehals“ aus der Vogelwelt adaptiert. Der unbekannte Autor erwählte dafür den Begriff des „Wetterhahns“, der sich auf dem Dach immer in Richtung des gerade herrschenden Windes drehte. Wie gesagt, 1815 (das Jahr des Waterloo-Debakels Napoleons) erschien in Paris das „Dictionnaire des girouettes“, in dem auf rund 500 Seiten in alphabetischer Reihenfolge alle die Personen aufgelistet sind, deren öffentliche Laufbahn dadurch gekennzeichnet war, dass sie ihr Mäntelchen stets nach dem Winde hängten und auf diese Weise rückgratlos und damit ungeschoren politische Umbrüche überstehen konnten. Der „Grad“ des Gesinnungswandels wurde in diesem Buch durch stilisierte „Wetterhähne“ – Fähnchen – dargestellt. Je mehr hinter einem Namen gedruckt waren, desto öfters hatte sich die Person nach Meinung des Autors den wechselnden Zeiten angepasst. Und in diesem Lexikon finden sich Unmengen von illustren Namen, beispielsweise Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754-1838), der berühmte Außenminister Napoleon Bonapartes (16 Fähnchen), über den der abgedankte französische Kaiser auf Sankt Helena die Worte fand: 

Was mich überzeugt, dass es weder einen strafenden noch einen belohnenden Gott gibt, ist der Umstand, dass die anständigen Menschen immer unglücklich und die Schufte immer glücklich sind. Sie werden es erleben, dass ein Talleyrand in seinem Bett sterben wird.“ 

Und so ist es gekommen. 

Zwölf Fähnchen gingen an Joseph Fouchè (1759-1820), dem berüchtigten Polizeiminister Napoleons. Er hat wahrlich in jeder Lebenslage die Kurve gekriegt, was ihn geradezu zum Inbegriff eines Wendehalses machte. Stefan Zweig (1881-1942) hat 1929 seine Lebensgeschichte aufgeschrieben (man kann sie im Internet im „Projekt Gutenberg“ lesen) und kann darin eine gewisse Bewunderung für diesen Mann, der seine Überzeugungen, sobald es ihm opportun erschien, wie die Hemden wechselte, kaum unterdrücken. Zu Beginn der Revolution war er mit den Parteiführern der ge-mäßigten Girondisten liiert. Dann wendete er sich der extremen Bergpartei zu und forderte die Hinrichtung des Königs. Durch sein politisches Gespür sah er das Scheitern Robespierres voraus und nahm aktiv an dessen Sturz Anteil, wobei er sich eiligst Jean Lambert Tallien (1667-1820) anschloss. In diesem Zusammenhang wurde Fouchè verhaftet und eingesperrt. Aber nicht für lange. Er schleimte sich schnell bei den Mitgliedern des sogenannten „Direktoriums“ (der letzten „Regierung“ der Revolution), insbesondere Paul de Barras (1755-1829), ein. Trotzdem man mit ihm dort nicht sonderlich zufrieden war, wurde er schließlich Polizeiminister, was für ihn einen großen Karrieresprung bedeutete und es ihm ermöglichte, ein beträchtliches Vermögen anzuhäufen. In der Kaiserzeit wurde er mit Ehren überschüttet. Durch Indiskretionen am Kaiserhof, die zweite Ehe Napoleons betreffend, fiel er zwar in Ungnade. Da er aber den Sturz des Kaisers vorhersah, war das für ihn kein größeres Problem, denn er begann jetzt gemeinsame Sache mit den Bourbonen zu machen. Als aber die Gazetten meldeten, dass Napoleon die Insel Elba verlassen hat und mit seinen Anhängern auf Paris zu marschierte („Der böse Wolf legte in der Bucht von Juan an“ titelte die BILD jener Zeit), verließ er erst einmal sicherheitshalber Paris. Als Napoleon in Paris eingetroffen war (die BILD jener Zeit titelte „Seine Kaiserliche Majestät zog in die Tuilerien ein, umgeben von seinen getreuen Untertanen.“), wagte es auch Fouchè wieder nach Paris und begann den Kaiser zu umschmeicheln. So wurde er auch prompt während der „Hundert Tage“ wieder als Polizeiminister eingesetzt. Da er ahnte, dass die Herrschaft Napoleons nicht lange anhalten wird, verriet er den geplanten belgischen Feldzug in konspirativer Weise an den britischen Feldmarschall Arthur Wellesley (1769-1852), besser bekannt als „Wellington“ (er war der 1. Duke of Wellington). Und als schließlich Napoleon bei Waterloo endgültig besiegt war, wurde Fouchè Präsident der Provisorischen Regierung und brach damit endgültig mit den Bonapartisten. Und so ging es weiter. Als mit Ludwig XVIII. schließlich wieder ein Bourbone auf den französischen Thron zurückkehrte, wurde er abermals Polizeiminister – ein ehemaliger Jakobiner, der einst für den Tod des Bourbonenkönigs Ludwig XVI. gestimmt hatte… Man kann sich vorstellen, dass dieses „Lexikon der Wetterhähne“ viel Aufsehen in Frankreich jener Tage hervorgerufen hat. So sah sich ein gewisser Beuchot genötigt, die Ehre der Nation wieder herzustellen. Seine Elaboration zu diesem Thema gereichte zu einem Buch, welches man z. B. in der digitalen Bibliothek „Gallica“ unter dem Titel „Dictionnaire des immobiles“ – also als „Lexikon der Charakterfesten“ einsehen kann. Er brachte es immerhin auf 38 Textseiten... Also weit her kann es mit den „Charakterfesten“ zur Zeit der „Ersten Republik“ nicht gewesen sein – wahrscheinlich auch Dank der Erfindung des Herrn Joseph-Ignace Guillotin, der so viele „Charakterfeste“ in den Wirren der Französischen Revolution zum Opfer gefallen sind… 

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