Das “Fließen“ der Zeit um den Zauberberg...


Heute möchte ich mich wieder mal der Frage „Was ist Zeit?“ zuwenden, und zwar insbesondere dem Aspekt des „Zeitflusses“. Er beschreibt das fortgesetzte Vergehen des „Jetzt“ in der Vergangenheit und das Hereinbrechen der Zukunft als einen unaufhaltsamen Prozess. Aber wie schon Kant feststellte, macht der Begriff des „Fließens“ in diesem Zusammenhang nur dann Sinn, wenn man es mit der Alternative des „Nichtfließens“ vergleichen könnte. Für gestandene Physiker ist deshalb Zeit in diesem Sinn eine, wenn auch hartnäckige, Illusion. Seine Formeln zeigen explizit kein „Fließen“ der Zeit, sie ist dort lediglich ein Parameter analog den Ortskoordinaten, mit dem man Veränderungen beschreiben kann. Dort, wo es keine wie auch immer geartete Veränderungen gibt, wird der Zeitbegriff sinnlos, da sich unter dieser Bedingung auch keine Messvorschrift für diesen Parameter mehr definieren lässt. 

Das steht auch im Einklang mit dem sogenannten thermodynamischen Zeitpfeil. Er legt von zwei zeitlich getrennten Zuständen eines Systems genau den als mehr in der Vergangenheit liegenden fest, der die geringere Entropie von beiden aufweist. Ein physikalisches System im thermodynamischen Gleichgewicht (d. h. in dem keine Veränderungen mehr stattfinden) kennt deshalb weder Vergangenheit noch Zukunft, es ist gewissermaßen zeitlos. 

Eine andere Art des Zeitpfeils kann man an der Entwicklung des überschaubaren (d. h. für uns sichtbaren) Teils des Universums festmachen. Und zwar lässt sich in diesem Fall die Zeit quasi an der durch die kosmische Expansion erreichten Größe (dem „Weltradius“) ablesen. Man spricht hier speziell vom „kosmologischen Zeitpfeil“. 

Das „Zeitproblem“ hat aber auch jenseits der Physik seine jeweils eigene Bedeutung wie z. B. in der Psychologie (Warum erscheinen uns die Tage im „Alter“ kürzer als die Tage in unseren Kindertagen?), in der Metaphysik (siehe z. B. Heideggers „Sein und Zeit“) oder Biologie (Evolution) und hat auch heute noch nichts von seiner Faszination zumindest für diejenigen, die darüber nachzudenken bereit sind, verloren. 

Es sei hier nur an die Worte Hans Castorp’s in Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ erinnert, dem er folgende Gedanken „in den Kopf schrieb“: 

Was ist die Zeit? Ein Geheimnis - wesenlos und allmächtig. Eine Bedingung der Erscheinungswelt, eine Bewegung, verkoppelt und vermengt dem Dasein der Körper im Raum und ihrer Bewegung. Wäre aber keine Zeit, wenn keine Bewegung wäre? Keine Bewegung, wenn keine Zeit? Frage nur! Ist die Zeit eine Funktion des Raums? Oder umgekehrt? Oder sind beide identisch? Nur zu gefragt! Die Zeit ist tätig, sie hat verbale Beschaffenheit, sie "zeitigt". Was zeitigt sie denn? Veränderung! Jetzt ist nicht Damals, Hier nicht Dort, denn zwischen beiden liegt Bewegung. Da aber die Bewegung, an der man die Zeit mißt, kreisläufig ist, in sich selber beschlossen, so ist das eine Bewegung und Veränderung, die man fast ebensogut als Ruhe und Stillstand bezeichnen könnte; denn das Damals wiederholt sich beständig im Jetzt, das Dort im Hier.“ 

Dieses Buch, nach den „Buddenbrooks“ (Literaturnobelpreis 1929) und „Königliche Hoheit“ der dritte große Roman von Thomas Mann (1875-1955), war einer „der“ Bestseller in der Zeit der Weimarer Republik und darüber hinaus. In der Tradition des deutschen Bildungsromans (besser, einer Parodie darauf) wird in der Enge eines Lungensanatoriums in der Schweiz ein episches Gemälde, das sich um die Person des jungen Hamburgers Hans Castorp rankt, entwickelt und, fein ziseliert, mit einer Vielzahl von jeweils eigenen Charakteren in Beziehung gesetzt. Ein als „kurz“ (3 Wochen) geplanter Besuch Castorps in Davos entwickelt sich zu einem 7-jährigen Aufenthalt, in dem die Persönlichkeit des Protagonisten geformt wird. Der „rote Faden“ des Romans erscheint zwar simpel, aber die Sprache Thomas Manns, die eingestreuten philosophischen und theologischen Streitgespräche auf zum Teil sehr hohem Niveau (und deshalb nicht immer leicht zu folgen) in Verbindung mit der intensiven Atmosphäre jener durch den 1. Weltkrieg geprägten Zeit lassen einen nicht mehr los. Wenn Sie also dieses Buch noch nicht gelesen haben, dann sollten Sie es schleunigst tun. Sie werden es nicht bereuen…

Mich hat in meiner Studentenzeit, wo ich unendlich viel gelesen habe, noch ein anderes Buch stark beeindruckt, wenn es auch nicht in dieser literarischen Liga mitspielen kann. Es handelt sich um die Autobiografie von Carl Zuckmayer (1896-1977) mit dem Titel „Als wär’s ein Stück von mir“. Nur wenige werden noch diesen Theaterschriftsteller kennen, dem mit der Komödie „Der fröhliche Weinberg“ 1925 der Durchbruch gelang. Zwei Jahre später festigte sich sein Erfolg mit dem Stück „Schinderhannes“ und 1931 gelang ihm dann der ganz große Coup mit „Der Hauptmann von Köpenick“, der ihn innerhalb kürzester Zeit zu einem wohlhabenden Mann machte. Dieses Stück war wegen seiner deutlichen antimilitaristischen Haltung zur Zeit des Nationalsozialismus natürlich nicht mehr opportun, was ihn 1938 zur Flucht aus Österreich veranlasste. Alles das hat er in seiner Autobiografie detailliert beschrieben – die Verhältnisse in Wien nach dem „Anschluss“, seine fast misslungene Flucht über die Schweiz, die ihn erst nach Rotterdam und dann in die Vereinigten Staaten führte, wo er dann eine Zeit lang als Drehbuchautor in Hollywood lebte (um einmal eine bekannte Örtlichkeit zu nennen) und seine Rückkehr nach dem Krieg. 

Zuckmayers Autobiografie lässt die ersten 6 Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts ähnlich lebendig vor Augen treten wie das Leben Hans Castorps in Davos am Vorabend des 1. Weltkrieges in Thomas Manns Roman. Schritt für Schritt trifft man auf berühmte Zeitzeugen wie Max Reinhard, Bertolt Brecht, Stefan Zweig und, und, und… Kein Abschnitt ist langweilig. Deshalb ein Tipp: Falls man nur wenig Zeit zum Lesen erübrigen kann, sollte man die Lektüre aufschieben und in den Urlaub verlagern. Glauben Sie mir, Zuckmayers Autobiografie ist besser als jedes Geschichtsbuch über diese ereignisreiche Zeit. Der Titel „Als wär’s ein Stück von mir“ ist übrigens eine Zeile aus dem Gedicht von Ludwig Uhland „Der gute Kamerad“, welches er im Jahre 1809 unter dem Eindruck des Einsatzes Badischer Truppen gegen die gegen Napoleon Bonaparte revoltierenden Tiroler Freiheitskämpfer geschrieben hat. Dieses Gedicht, auch als „Ich hatt‘ einen Kameraden…“ bekannt, wird in der Vertonung von Friedrich Silcher auch heute noch bei Trauerfeierlichkeiten der Bundeswehr gespielt. Es war „das“ Lied zur Zeit des Ersten Weltkriegs. „Das“ Lied des Zweiten Weltkriegs war ohne Zweifel „Lili Marleen“, ursprünglich von Lale Andersen gesungen („An der Kaserne, vor dem großen Tor…“). Popularisiert durch den Armeesender Belgrad kam nach 1941 eine Vielzahl von Varianten in anderen Sprachen auf, denn das Lied war auch unter den Gegnern Nazideutschlands äußerst beliebt. Eine englischsprachige Fassung ist beispielsweise eng mit dem Namen von Marlene Dietrich (1901-1992) verbunden, die berühmte, in die USA ausgewanderten UFA-Schauspielerin aus der Heinrich-Mann - Verfilmung des Buches „Prof. Unrat“ - dem „Blauen Engel“. Als es schließlich mit dem Hitlerreich langsam zu Ende ging, die Rote Armee die deutsche Wehrmacht immer weiter nach Westen zurückdrängte und schließlich die Alliierten an der Normandie eine zweite Front eröffneten, kurz gesagt, sich durch den Bombenkrieg die Lage auch innerhalb Deutschlands immer unerträglicher gestaltete, wurde ein weiteres Lied zum Gassenhauer und fatalistischen Mutmacher: „Davon geht die Welt nicht unter“ von Bruno Balz (1902-1988) und unvergleichlich gesungen von Zarah Leander (1907-1981) im Film „Die große Liebe“. Und als letztes Beispiel muss unbedingt noch „Brothers in Arms“ von Mark Knopfler („Dire Straits“, ein anderes Wort für „pleite“) erwähnt werden, welches man wiederum als „das“ Lied der Jugoslawienkriege von 1991 bis 2001 bezeichnen kann...

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